Die Träume perlmuttfarbener Fische
Als im vergangenen Herbst in der Alten Nationalgalerie der belgische Symbolismus gezeigt wurde, fielen aus der verbreiteten Düsternis die fröhlich-farbigen Gemälde James Ensors heraus. Nichts liegt seinen Bildern ferner als jene trübe Abendstimmung, die die Symbolisten bevorzugten, wohl als Spiegelbild ihrer eigenen Seelenverfassung. Nur – was wäre dann Ensor gewesen, verstünde man seine bunten Bilder gleichermaßen als Spiegel?
James Ensor ist irgendwie nicht zu greifen. Wohl auch das macht seine Faszination aus, in Berlin wie zur Zeit in einer Retrospektive in der Kunsthalle Mannheim (bis 3. Oktober). Was soll ein Gemälde wie das in Berlin gezeigte „Malende Skelett“ sagen? Ein Bild, in dem nahezu alles stimmt, die Staffelei, die Gemälde, der Maler mit Palette; nur dass der Maler eben ein Skelett ist. Ist das Atelier, das hier doch eher eine bürgerliche Wohnstube ist, ein Totenhaus?
Bürgerlich hat James Ensor gelebt, in seiner Vaterstadt Oostende. Das belgische Seebad ist längst eine veritable Großstadt und an sonnigen Wochenenden überlaufen von Ausflüglern aus Brüssel. Ensors Eltern bewirtschafteten ein Geschäft, eine Art Souvenir- oder Kuriositätenshop, wenige Meter von der Promenade entfernt. Neben dem nahen Wohnhaus wuchs um 1900 ein modernes Gebäude in die Höhe. Das bildet nun den Zugang zum schmalen Ensor-Haus, das den Ansturm der Touristen allein gar nicht bewältigen könnte.
Hier hat der Maler also gelebt und gearbeitet, und jahrzehntelang hatte er sein formatgrößtes Bild immerzu vor der Nase: den „Einzug Christi in Brüssel“ von 1889 mit 250 mal 430 Zentimeter. Mehr passte auch gar nicht auf die Wand des „blauen Salons“, außerdem stand davor das Harmonium, auf dem Ensor gerne spielte, und das wiederum diente als Stellfläche für zahlreiche kleine Bilderrahmen – ein Idyll, dem der Betrachter sogleich das Adjektiv „trügerisch“ anheftet.
Die Einheit von Leben, Wohnung und Werk, die dem Besucher im Ensor-Haus vorgegaukelt wird – schließlich ist das Christus-Großformat nur mehr als Fotoreproduktion anwesend –, tut der Leistung des gewiss auch kauzigen Malers unrecht. Allein dass über dem in Brüssel einreitenden Christus ein Banner mit der Aufschrift „Vive la sociale“ weht, macht stutzig. Belgien im Jahr 1889 war nicht die heitere Sommerfrische, als die sich Oostende heute darbietet, sondern Schauplatz frühindustriellen Elends und wütender Klassenkämpfe.
Wenn man originale Gemälde sehen will anstelle der Reproduktionen im museumsdidaktisch durchorganisierten Ensor-Haus, muss man in das wiedereröffnete Museum Oostende mit dem Akronym Mu.ZEE gehen. Es befindet sich in der Stadt, abseits von Strand und Promenade, in dem ehemaligen Kaufhaus einer Genossenschaft. Das Gebäude ist viel zu groß für die schmale Seitenstraße, noch dazu erstreckt es sich rückwärtig bis zur Parallelstraße.
Erbaut wurde das Kaufhaus vom Architekten Gaston Eysselinck, einem Wegbereiter der Moderne in Belgien, der 1953 noch vor Fertigstellung dieses meisterlichen Bauwerks Selbstmord verübte. Er hat dem Kaufhaus riesige Fensterflächen mitgegeben; das Tageslicht sollte bis in die hintersten Winkel fluten. Künstliche Beleuchtung war in den kargen Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg teuer.
[Mu.ZEE, Oostende, Romestraat 11. www.muzee.be]
Im Museum ist James Ensor in Gesellschaft des großen Belgiers, der die Zeit um die (vorige) Jahrhundertwende bestimmte: Léon Spilliaert. Auch er ist in Oostende geboren, allerdings 21 Jahre nach Ensor, der ihn gleichwohl noch überlebte. Spilliaert malt Landschaften, die wie abstrakte Farbflächen wirken, und Traumbilder von suggestiver Räumlichkeit wie „Vertigo“ („Schwindel“), das im Herbst in Berlin zu sehen war, als Leihgabe des Mu.ZEE.
Aber Spilliaert ist mehr, er experimentiert. In einer Broschüre des Museums heißt es treffend, er habe „die ohrenbetäubende Stille und die unendliche Tiefe der Nacht“ darzustellen versucht. Erlebt hat er sie bei Wanderungen in schlaflosen Nächten, von denen er zeitlebens geplagt wurde.
„In Belgien befindet man sich zwischen dem deutschen Expressionismus und dem französischen Fauvismus“, sagt Museumskurator Emmanuel Van de Putte. Solche Schubladenbegriffe werden gern verwendet; wie sollte man andererseits die „belgische Identität“ fassen, auf die sich das Mu.ZEE mit seiner Sammlung belgischer Kunst fokussiert? Die belgische Staatsangehörigkeit, früher für die Sammlung der ursprünglich „Museum der Schönen Künste“ genannten Institution maßgeblich, taugt als Kriterium nicht mehr.
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Das Haus war erstarrt, die Sammlung weitgehend ins Depot verbannt: Daher hat Museumsdirektorin Dominique Savelkoul ausgerechnet zu Zeiten der Pandemie den Sprung gewagt, das Gebäude zu entrümpeln und die Bilder hervorzuholen, um ein Panorama der belgischen Kunst aufzufächern. Ensor mit seinen Masken und Spilliaert mit seinen Nocturnes ordnen sich ein, das Fantastische und bisweilen Verstörende werden als Eigenheiten der Kunst in diesem Land deutlich. Dazu passt das nur halbwegs renovierte, ein bisschen wunderliche Gebäude, das mehr zu erzählen hat, als es auf den ersten Blick preisgibt.
James Ensor, als er längst berühmt war, hat von seinem Leben als einem „einfachen und ausgeglichenen Dasein“ gesprochen. Nur um hinzuzusetzen, dass es erfüllt sei „von lebendigen und zarten Farben, die von perlmuttfarbenen Fischen erbrochen werden“. Der heitere Ton, so die Botschaft, ist nur eine Maske, hinter der sich der abgründige Ensor versteckte, der selbst am häufigsten Masken malte.
Im Mu.ZEE lässt sich ein Blick hinter die Maske tun und hinein in Abgründe, die in Oostende gleich hinter der sonnenbeschienenen Promenade lauern. Dass ausgerechnet Ensors Meisterwerk vom Christuseinzug noch in den 1980er Jahren in die USA verkauft wurde, passt dazu.