Widersprüche im Widerstand

Kurz vor ihrem 100. Geburtstag am 09. Mai hat Sophie Scholl ein Handy bekommen. Ein Smartphone mit Frontkamera. Sie erstellt einen Instagram-Account, lädt Selfies hoch, Fotos mit ihrem Freund Fritz, verbotenen Büchern und eigenen Zeichnungen. Sie filmt sich beim Rauchen und in ihrer neuen Wohnung in München. Innerhalb einer Woche hat @ichbinsophiescholl mehr als eine halbe Million Abonnent:innen. In den Kommentarspalten wird das Projekt mit Herzchen-Emojis überhäuft.

Diese junge Frau fasziniert noch immer. Natürlich ist es nicht wirklich Sophie Scholl, die da postet. Die ARD hat das Format initiiert. Zehn Monate soll es laufen und die Zeit zwischen Scholls Studienstart im Mai 1942 und ihrer Verhaftung im Februar 1943 abdecken. Schauspielerin Luna Wedler ist dafür in die Rolle geschlüpft.

Das Bild der widerständigen Studentin mit funkelnden Augen und aufeinandergepressten Lippen ist Teil des kollektiven Gedächtnisses hierzulande. Sie wird mit vorbildhaftem Mut und flatternden Flugblättern assoziiert. Ihr Name ziert hunderte Schulen, Kindergärten und Straßen, ihr Profil wurde millionenfach auf Briefmarken gedruckt. „Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt!”, dieser legendäre Satz ihrer Widerstandsgruppe Weiße Rose steht auf T-Shirts, Bleistiften und Notizbüchern.

Nicht alle haben mit der Zivilisation gebrochen

Sophie Scholl ist nicht ohne Grund zur Ikone geworden. Als ausgestellte Märtyrerin half sie einer verunsicherten Nation, sich ein Stück weit von der erdrückenden Schuld zu befreien: Nicht alle haben mit der Zivilisation gebrochen, mitgemacht, gejubelt oder weggeschaut. Nachkriegsgenerationen konnten sich fragen, ob sie es der Widerstandskämpferin gleichgetan hätten. Wie unangemessen sie mitunter vereinnahmt wird, zeigten in den vergangenen Monaten die Querdenkerproteste.

Teilnehmer verglichen die gegenwärtige Pandemie und die damit einhergehenden Freiheitseinschränkungen der Bundesregierung mit der Zeit des NS-Regimes. Plakate mit Scholl-Zitaten wurden hochgehalten. Eine Frau, die als Jana aus Kassel bekannt wurde, sagte auf einer Bühne in Hannover stehend: „Ich fühle mich wie Sophie Scholl, da ich seit Monaten aktiv im Widerstand bin“.

Sophie Scholl ist mit zunehmender historischer Distanz zu einer glattgebügelten Figur geworden, von verschiedenen Seiten vereinnahmt. Der Theologe Robert M. Zoske hat nun eine Biografie über sie verfasst, in der er mit der Mystifizierung bricht. „Sophie Scholl: Es reut mich nichts“ (Propyläen Verlag, 448 Seiten, 24 Euro) heißt dieses Porträt, in dem er sie als spannende, aber auch widersprüchliche, junge Frau charakterisiert. Zoske räumt zunächst mit der Annahme auf, Scholl sei bloß bis Mitte der 1930er-Jahre beim Bund deutscher Mädel (BDM), einer Teilorganisation der Hitlerjugend, aktiv gewesen – und das auch nur aus Pflichtgefühl.

Nichts unvorteilhaft, anstößig oder widersprüchlich?

Stattdessen hätte sich Scholl bereits 1939, am Ende der regulären Dienstzeit problemlos vom BDM verabschieden können. Tat sie aber nicht. Aus ihren Korrespondenzen geht hervor, dass sie sich bis 1941 nicht grundsätzlich vom Nationalsozialismus abgewandt hatte.

Viele der heute noch präsenten Erinnerungen an Sophie und ihren Bruder Hans wurden nach Kriegsende von ihrer Schwester Inge Aicher-Scholl geprägt. Sie publizierte 1952 das Buch „Die Weiße Rose“, in dem Sophie Scholl die Rolle der selbstbewussten, emanzipierten Frau zuteil wurde, an der nichts unvorteilhaft, anstößig oder widersprüchlich war. Dabei hatte die vier Jahre ältere Aicher-Scholl laut Zoske viele Erinnerungen an ihre geliebte Schwester überzeichnet und „teils regelrecht verfälschend“ dargestellt.

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Es gibt zum Beispiel keine Indizien dafür, dass Sophie Scholl während der letzten Stunden vor ihrer Hinrichtung tapfer gelächelt habe und mit aufrechtem Gang zum Schafott schritt, „ohne mit der Wimper zu zucken und noch einen Gruß an den unmittelbar folgenden Bruder auf den Lippen“, wie Inge Aicher-Scholl es behauptete. Es gibt auch keine eindeutigen Hinweise darauf, dass Scholl schon als Kind durch besondere Intelligenz, „feine Eigenwilligkeit“ und einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn aufgefallen war. Stattdessen, so beschreibt es Zoske, war Scholl ein ganz normales, lebensfrohes Mädchen, das eine große Begabung für Kunst und eine enge Bindung zu Gott hatte. Die Schule verabscheute sie.

Sie lebte wild und asketisch, progressiv und bieder zugleich

In ihrer Jugend eiferte Scholl keinen weiblichen Klischees hinterher, nahm sich eher unkonventionelle Frauen zum Vorbild. Sie trug einen jungenhaften Kurzhaarschnitt mit langer Strähne, die sie auf die linke Seite flippte. Sie bewunderte die Malerin Paula Modersohn-Becker, vielleicht auch, weil ihr deren Lebensstil „zwischen einer familiären Bodenständigkeit in Worpswede und dem avantgardistischen Aufbruch in Paris“ imponierte. Trotz dieses Freiheitsdrangs beschreibt Zoske Sophie Scholl auch als in sich gekehrte, in depressiven Stimmungen verweilende, junge Frau.

Scholls tiefer Glaube und die damit einhergehende christliche Sexualmoral stürzten sie immer wieder in Konflikte. Für Sophie Scholl kam das körperliche Verlangen einer Sünde gleich. In zahlreichen Briefen an ihren Freund rang sie mit der gegenseitigen Begierde und verbot sich, dieser nachzugeben. Trotzdem hatte Sophie Scholl Sex mit Fritz Hartnagel. Sie besorgten billige Ringe und quartierten sich in einem Hotel ein. Scholl rauchte, trank Wein und fuhr Auto. Sie lebte wild und asketisch, progressiv und bieder zugleich. Von Unsicherheiten und Bedenken zerrissen, gleichzeitig mit Renitenz erfüllt.

Diese Widersprüche machen sie modern und nahbar – weil man sich eben nicht mit Anfang 20 schon vornimmt, sein Leben im Widerstand zu opfern. Ihr Umgang mit Fritz Hartnagel war stimmungsabhängig. Mal wollte sie ihn eng bei sich haben, dann stieß sie ihn wieder weg. Einmal schrieb Sophie an ihn: „Allzulange halte ich’s nicht mit einem einzigen Menschen aus. (…) Sobald jemand Ansprüche stellt, werde ich, glaube ich, sehr empfindlich. Du weißt es wohl auch, es gibt Stunden des Alleinseins, die wiegen alle Tage auf, in denen man sich gesehnt hat nach einem Menschen.“

„Ihre Distanzierung geschah langsam und unter Schwankungen“

Im späteren Verlauf des Kriegs begegnete Sophie Fritz’ Offizierslaufbahn mit zunehmendem Unverständnis. Parallel dazu wurden seine Briefe aus Stalingrad schwermütiger. Fritz’ Berichte dienten ihr als weiterer Beweis für ihre stetig wachsende Überzeugung dafür, dass der Krieg nur sinnloses Blutvergießen war. Sie fürchtete um sein Leben und das der anderen Soldaten, konnte ihren christlichen Glauben und das Massensterben an der Front nicht mehr in Einklang bringen. Doch Sophie Scholl brach nicht abrupt mit dem Nationalsozialismus: „Ihre Distanzierung geschah langsam und unter Schwankungen“.

Über die Jahre hinweg habe sie das moralische Bewusstsein entwickelt, das schließlich zur politischen Tat führte, schreibt Zoske. Scholl war oft unschlüssig, schwankte zwischen Unabhängigkeit, Glaube, Leichtigkeit und Melancholie. Erst mit ihrem Eintreffen in München zum Studienbeginn im Mai 1942, zehn Monate vor ihrem Tod, begann sie, sich für die Weiße Rose zu engagieren, die ihr Bruder Hans mitgegründet hatte. Es ist der Beginn der Zeitspanne, die gerade auf Instagram in Echtzeit nachgestellt wird.

An ihrem ersten Tag in der Uni postet @ichbinsophiescholl ein Selfie aus dem Foyer. Eine Nutzerin kommentiert: „Was für eine tolle junge Frau du geworden bist“, eine andere: „Ach Sophie…Schön, dass Du hier bist.“ Weiter unten fragt eine Followerin, ob Scholls Nazi-Vergangenheiten auch noch thematisiert wird, ein anderer freut sich, endlich mehr über ihre Gedankenwelt zu erfahren. Die Reaktionen zeigen, dass Scholls Zweifel und Widersprüchlichkeiten gar nicht schlecht ankommen, sondern schlicht dazugehören.