Wut ist ein männliches Attribut
Wut kann, in homöopathischen Dosen, ein erhebendes Gefühl sein. Unkontrolliert setzt sie hingegen katalytische Kräfte frei. Das Kino besitzt die besondere Qualität, Wut in Bewegung zu übersetzen. Das entfesselte Bild initiiert ein Momentum der Befreiung: Ein Mann schreit in der Wüste seine Frustration heraus, ein anderer macht seiner Wut mit einer obszönen Karikatur Luft, in der ein Mann mit einem Strauß kopuliert.
Nach vier Tagen Cannes bleibt hängen, dass der diesjährige Jahrgang ein Festival der wütenden Männer ist, angefangen mit Adam Drivers Stand-up-Comedian im Eröffnungsfilm “Annette”. Sie verzweifeln an den politischen Zuständen, aber vor allem an sich selbst. Selbstkritik ist bereits integriert: In Joachim Triers Wettbewerbsbeitrag “The Worst Person in the World” erklärt ein älterer Mann einer jungen Frau im passiv-aggressiven Unterton den Begriff “Mansplaining”. Das ist dann wiederum komisch.
Der israelische Filmemacher Y (Avshalom Pollak) hat in Nadav Lapids “Ahed’s Knee” nichts zu lachen. Er arbeitet an einer Videoinstallation über die palästinensische Aktivistin Ahed Tamimi, die 2017 Berühmtheit erlangte, als sie sich einem israelischen Soldaten widersetzte – und dafür ins Gefängnis musste. Ein Politiker sagte damals, Tamimi verdiene eine Kugel ins Knie.
Y hat eine Einladung in die dünn besiedelte Arava-Region an der Grenze zu Jordanien erhalten, um dort seinen jüngsten Film vorzustellen. Bei seiner Ankunft bittet ihn die Mitarbeiterin des Kulturministeriums Yahalom (Nur Fibak) zunächst allerdings, einen Vertrag zu unterzeichnen, in dem er sich einverstanden erklärt, sich nicht kritisch über Israels Politik zu äußern. Der labile Y, der unter einem Kriegstrauma leidet, geht erst mal in die Wüste, um sich abzureagien.
Radikale Poesie in Wort und Bewegung
Wie schon in Lapids “Synonymes”, 2019 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet, geht es in “Ahed’s Knee” um einen Exorzismus. Im preisgekrönten Vorgänger wandert ein junger Israeli nach Paris aus, um seine Muttersprache aus dem System zu kriegen. Das war eine schöne metaphorische Wendung für das Unbehagen gegenüber der Heimat, eine Mischung aus radikaler Poesie in Wort und Bewegung. In “Ahed’s Knee” schlägt diese Leichtigkeit in eine Art filmischen Amoklauf um.
Immer wieder wirbelt die Kamera um die eigene Achse, fällt rücklings ins Nichts: Lapid verzichtet meist auf Schnitte und arbeitet mit Reißschwenks in alle Himmelrichtungen. Das Gefühl der Orientierungslosigkeit überträgt sich bald auf den Film, die Wut lässt sich nicht mehr steuern. Irgendwann hält Y der perplexen Yahalom eine Tirade: “Ich kotze Israel aus mir heraus in das Gesicht deines Kulturministers!”
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Mit Spott gegen den russischen Filz
Nadav Lapids Furor, der es ihm erschweren dürfte, “Ahed’s Knee” in Israel zu zeigen (vielleicht hilft ja eine Goldene Palme), verhält sich spiegelbildlich zur köchelnden Frustration des Protagonisten in “Delo” von Alexei German (in der Reihe Un Certain Regard). Ein georgischer Literaturprofessor, gespielt von Merab Ninidze, hat sich mit dem korrupten Bürgermeister angelegt und sitzt zur Strafe für eine Karikatur, die schlimmer ist als die Korruptionsvorwürfe, mit einer Fußfessel in seinem Haus in der Provinz.
Alle Versuche, ihn zu beschwichtigen, scheitern: von seiner Mutter, seiner Ex-Frau, seinen Studierenden, sogar vom Polizisten, der regelmäßig zur Kontrolle vorbeischaut. Aber David hat lange genug geschwiegen. Nun sei es Zeit zu schreien, sagt er.
German, der 2018 mit dem Dissidentendrama “Dovlatov” den Silbernen Bären gewann, ist ein zivilisierterer Kritiker als Lapid. Seine Tiraden sind noch durchzogen von subtilem Spott über den russischen Filz und seine Landsleute, die nicht wissen, wer “Schuld und Sühne” geschrieben hat. In Davids Einmann-Revolution unter Hausarrest verschwimmen die Grenzen zwischen Rechtschaffenheit und Rechthaberei.
Und so erinnern “Delo” wie “Ahed’s Knee” auch daran, dass Wut meist ein männliches Attribut ist. Die schönste Trotzreaktion zeigt in Cannes bisher die 15-jährige Chiara in Jonas Carpignanos Coming-of-Age-Film “A Chiara”, die sich den Fängen ihrer Mafia-Familie wie eine moderne Alice im Wunderland durch einen Sprung in unterirdische Schlupflöcher entzieht. Da ist keine Wut zu spüren, nur ein unerschütterlicher Teenagerstolz.