So monumental wie „Krieg und Frieden“
Stalingrad – mythischer Ort und historische Zäsur, die für die Wende des Zweiten Weltkriegs steht. Viele Bücher wurden darüber geschrieben, eines der bedeutendsten ist der tausendseitige Roman „Leben und Schicksal“ des 1905 geborenen russischen Autors Wassili Grossman. In seiner Jugend war er selbst ein glühender Kommunist. Als er in seinem Roman aber die Ähnlichkeiten der im Kampf verbissenen totalitären Systeme herausstellte, verstieß er gegen das größte sowjetische Tabu.
Deshalb hatte „Leben und Schicksal“ selbst in der „Tauwetter“-Periode nach Stalins Tod keine Chance auf eine Publikation. Grossman starb 1964 mit nur 58 Jahren im Bewusstsein fürchterlicher Vergeblichkeit. Jahre später gelangte eine Version des heimlich abfotografierten Manuskripts in den Westen. Und wurde zum literarischen Ereignis. „Leben und Schicksal“ ist allerdings nur der zweite Teil seines Großwerks über Stalingrad. Der erste, noch umfangreichere Band mit dem lakonischen Titel „Stalingrad“ ist jetzt auf Deutsch erschienen.
Grossman hat an Tolstoi Maß genommen. An „Krieg und Frieden“ erinnert das monumentale Doppelwerk auch dadurch, dass es mit den Scháposchnikows eine weit verzweigte Familie in den Mittelpunkt stellt. Während Tolstoi jedoch zu Zeiten der in „Krieg und Frieden“ geschilderten Ereignisse noch gar nicht geboren war, befand sich Grossman mittendrin im Geschehen. Als hoch verehrter Kriegsreporter verbrachte er vier Monate in der erbittert umkämpften Stadt, sprach mit Soldaten und Generälen, Scharfschützen und Sanitätern. Die olympisch-souveräne Erzählposition Tolstois war ihm deshalb nicht möglich. Dafür profitiert sein Roman von der hautnahen Kenntnis des Krieges, vor allem in den gleichsam mit allen Sinnen geschriebenen Schlachtenbeschreibungen.
[Wassili Grossman: Stalingrad. Roman. Aus dem Russischen von Christiane Körner, Maria Rajer und Andreas Weihe. Claassen Verlag, Berlin 2021. 1276 Seiten, 35 €.]
Aber bevor die Kämpfe um die Stadt beginnen, lässt sich Grossman in „Stalingrad“ siebenhundert Seiten Zeit, um seine zahlreichen Figuren zu entwickeln und deren Vorgeschichte zu erzählen. Berührend ist die Schilderung des Alltags in Stalingrad, während die Front bedrohlich näher rückt. Wie eine Phantasmagorie erscheint die sommerliche Stadt, wo der frische, von der Wolga herüberwehende Wind die Tischtücher der Restaurants flattern lässt. Einige polemische Kapitel zeigen auch Soldaten auf der deutschen Seite, die (historisch verständlich, literarisch fragwürdig) zu Karikaturen des Bösen werden, was noch mehr für jene Kapitel gilt, in denen Hitler selbst auftritt – bei Grossman eine ebenso erbärmliche wie erschreckende Gestalt.
In Rückblenden erzählt der Roman vom Trauma des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion ein Jahr zuvor. Aber schon in den erschütternden Niederlagen, Verlusten und Rückzügen des Jahres 1941 steckt für Grossman ein Teil des späteren Sieges, weil sich dadurch die Reserven der Wehrmacht verschleißen. Nur einen Blitzkrieg hätten die Eroberer gewinnen können.
Eine Epoche, die mit Entsetzen gefüllt ist
Die deutsche Führung aber wähnte sich in ihrer Hybris kurz vor dem finalen Triumph. Mit dem Sieg in Stalingrad wäre die Sowjetunion niedergerungen; bald darauf würde auch England kapitulieren. 600 deutsche Bomber legten im August 1942 Stalingrad in Schutt und Asche. Auf siebzig unter die Haut gehenden Seiten schildert Grossman die verheerenden Angriffe, bei denen etwa 40 000 Zivilisten starben. Es kommt Grossman auf das Leiden der Einzelnen an, ohne dabei militärisch-strategische Details aus dem Blick zu verlieren. Er beschreibt eine Epoche, die mit Entsetzen erfüllt ist. Und dennoch bewahrt er sich den teilnehmenden Ton eines unbeirrbaren Menschenfreunds.
Vom sowjetischen Terror ist in „Stalingrad“ allerdings noch kaum die Rede. Der ideologische Überwachungsdruck wird nur angedeutet in rückblickenden Passagen über Abartschúk, den ersten Ehemann von Ljudmila Nikolájewna Scháposchnikowa, die Viktor Páwlowitsch Strum heiraten wird – den genialen jüdischen Physiker, der in „Leben und Schicksal“ zur Hauptfigur wird.
Abartschúk ist schon als Student für Säuberungen zuständig. Menschen bürgerlicher Herkunft rufen bei ihm „körperlichen Ekel“ hervor: „Die Frage, was mit diesen Menschen zu tun sei, beschäftigte ihn immerzu. ‚Fürs Erste müssen sie isoliert, aus dem gesellschaftlichen Prozess ausgeschlossen werden, und danach sehen wir weiter.’ Und er blickte sein Gegenüber kalt und geheimnisvoll an.“ Der unheimliche Abartschúk wird allerdings selbst als „Volksfeind“ verhaftet. Das ist eine der wenigen Szenen, die etwas vom Leben hinter den Enthusiasmus-Kulissen des kommunistischen Aufbaus erahnen lassen.
Die Opferbereitschaft der Rotarmisten war nicht zuletzt der Aktivität der Politkommissare geschuldet, die Stalins Befehl 227 ausführten: „Panikmacher und Feiglinge müssen auf der Stelle vernichtet werden.“ So wurden allein bei der Schlacht um Stalingrad 13 000 Rotarmisten von eigener Seite liquidiert. Auch das findet im Roman nur eine weichgezeichnete Darstellung. Grossmans historisches Panorama hat Lücken. Dennoch ist es faszinierend. Zweifellos waren viele Menschen in der vom Vernichtungskrieg heimgesuchten Sowjetunion angetrieben von den sozialistischen Idealen, die Grossman hier ungetrübt schillern lässt. Erst in „Leben und Schicksal“ wird diese Sichtweise gründlich demontiert.
Die Kunst der Menschenschilderung
Es gehört zu Grossmans Kunst der Menschenschilderung, dass er seine Figuren nicht festlegt, sondern sie in der Entwicklung zeigt. Allerdings sind einige Figuren Mischwesen – zur einen Hälfte Individuen, zur anderen Hälfte Gestalten nach den Schablonen des sozialistischen Realismus, von denen auch das Lob auf die Errungenschaften der sowjetischen Aufbaujahre bestimmt ist: Bergwerke, kolossale Stahlfabriken, Traktorenwerke, blühende Kolchosenlandschaften und „Helden der Arbeit“.
Im russischen Original erschien „Stalingrad“ 1952, ein Jahr vor Stalins Tod. Zuvor gab es mehrere Fassungen, die Grossman nach den Vorstellungen der Redakteure und Zensoren erstellte. Spätere Auflagen wurden im Zeichen von Chruschtschows „Tauwetter“-Politik revidiert. Die deutsche Übersetzung folgt nun einer russischen Neuausgabe, die aus den verschiedenen Fassungen so rekonstruiert wurde, dass die Qualitäten des Werkes und die Intentionen des Autors bestmöglich zu Geltung kommen.
Die Handlung endet vor der Gegenoffensive der Sowjets im November und der deutschen Kapitulation Ende Januar. Das alles bleibt dem bedeutenderen zweiten Teil „Leben und Schicksal“ überlassen, der durch „Stalingrad“ viel Tiefenperspektive hinzugewinnt. So erst wird das über zweitausendseitige Kriegsepos zum Diptychon. Ein wirkliches literarisches Doppelbild ergibt sich gerade durch die Unterschiede in der Grundhaltung der Romanteile: Sowjetoptimismus hier, dissidentische Desillusion dort.
Denn in „Leben und Schicksal“ bekommt der sowjetische Sieg etwas zutiefst Tragisches: Nicht nur weil er mit Zigmillionen Menschenleben bezahlt wurde, sondern weil er auch den Effekt hatte, Stalin als obersten Kriegsherrn von seinen Verbrechen reinzuwaschen. Beide Werke zusammen ergeben ein großes literarisches Dokument aus der Geschichtshölle des zwanzigsten Jahrhunderts.