Erinnerungstag 9. November: Hochsaison des kollektiven Gedenkens
Schon ist wieder November, das Jahr fast vorüber. Die Tage werden kürzer, die Schlangen in den Einkaufsstraßen länger. So manche Menschen entdecken in dieser Zeit, so kurz vor Weihnachten, ihre christliche Nächstenliebe, die sie die restlichen Monate allzu oft vermissen lassen. Das vergangene Jahr wird fleißig reflektiert, das eigene Gewissen mit der ein oder anderen Spende beruhigt.
In dieser freudigen Zeit, die von der Mehrheit der deutschen Bevölkerung gefeiert wird, steht ein Jude aus Nazareth im Mittelpunkt. Was viele nicht wissen: Der November ist auch der Beginn einer weiteren Saison. Aber im Gegensatz zur Weihnachtszeit steht hier nicht ein Jude im Mittelpunkt, sondern gleich sechs Millionen Jüdinnen*Juden.
„Leben im Schatten von Auschwitz? Keine optimistische Vor-Schau; jedenfalls nicht für das Kollektiv der Täter und das der Opfer. Beide leben in jeweils notwendig anderer, ja gegensätzlicher Weise mit der Erinnerung an das Ereignis, bzw. sind bemüht, ihr auszuweichen”, wie es der deutsch-israelische Historiker Dan Diner in seinem Text “Negative Symbiose – Deutsche und Juden nach Auschwitz” schreibt. Zwischen dem 9. November und dem 27. Januar ist kein Ausweichen möglich: Es ist die High-Season des kollektiven Gedenkens.
An diesen beiden Tagen schmücken sich Politiker*innen, Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen mit der Erinnerung an die ermordete jüdische Bevölkerung, als wäre sie glitzernder Weihnachtsschmuck am Tannenbaum. Es werden mahnende Worte des Gedenkens gesprochen und es wird lautstark die Parole „Nie Wieder!“ beschworen.
Im vergangenen Jahr haben der Publizist Monty Ott und ich uns die Frage gestellt, was damit eigentlich gemeint sei: „Nie wieder Krieg“? „Nie wieder Diktatur” oder „Nie wieder Antisemitismus”? Wobei: Letzteres kann es ja offensichtlich nicht sein.
Denn für das vergangene Jahr 2021 erfasste die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus bundesweit insgesamt 2738 antisemitische Vorfälle. Das macht über sieben antisemitische Vorfälle pro Tag.
Der Hass grassiert
Den jüdischen Gemeinden in Deutschland wird die unheilvolle Aufgabe zuteil, die Erinnerung diejenigen Vorfahren am Leben zu halten, die versteckt, vertrieben oder ermordet wurden. Gleichzeitig soll sie auch auf den grassierenden Antisemitismus aufmerksam machen.
Ihr Mahnen, wie es Diner beschreibt, ist allein durch ihre bloße Existenz eine Provokation all jener, die am liebsten einen Schlussstrich über die deutsche Geschichte ziehen wollen. Oder wie es der israelische Psychoanalytiker Zwi Rex in unnachahmlicher Kürze gesagt hat: „Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen“.
Doch zurück zum 9. November und zum 27. Januar. An diesen beiden Tagen erfreuen sich Gedenkorte großer Beliebtheit. In Berlin kommt man nicht umhin, die vielen Kerzen und Blumen zu bemerken, die in den Monaten November und Januar die Straße säumen: In den Stadtteilen legen Anwohner:innen immer wieder Beigaben an Stolpersteinen ab die an die Deportierten und Ermordeten erinnerten.
Eine ungewöhnliche Form des kollektiven Gedenkens, die mich zugegeben irritierte, als ich selbst vor einigen Jahren von Frankfurt/Main nach Berlin zog. Irritierend auch deshalb, weil einige der Grabkerzen mit Kreuzen geschmückt waren. Aber der Wille zählt.
Diese Geste und Initiative ganzer Nachbarschaften kann positiv berühren – umso nachdenklicher stimmen da jedoch die Vielzahl an Angriffen auf eben jene Gedenkorte. Im Mai 2022 veröffentlichten NDR und Süddeutsche Zeitung eine Recherche zu Angriffen auf Gedenkorte, die an Opfer des Nationalsozialismus erinnern. In den letzten sechs Jahren wurden über 100 Sachbeschädigungen an Stolpersteinen, Gedenktafeln oder Konzentrationslagern festgestellt. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher ausfallen.
Jüdisches Leben als Geschenk
Feiertagssaison. Das bedeutet auch, die Geschenke für die eigene Familie und Freund*innen auf den letzten Drücker zu kaufen. Die Bescherung am Weihnachtsmorgen bringt Kinderaugen zum Leuchten und auch im Erwachsenenalter bescheren Überraschungen eine herzliche Freude. Heute leben, je nach Schätzungen 100 000 bis 200 000 Geschenke, in Deutschland. Zumindest, wenn man so mancher Politiker*in Glauben schenkt, die heutiges jüdisches Leben in Deutschland nur allzu gern als Geschenk bezeichnen.
Nur tragen wir in dieser Vorstellung keine Schleifen um den Hals, sondern wenn man sich die meisten Medienberichte anschaut, eine Kippa mit einem großen Davidstern. Laut der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland leben circa 70 000 jüdische Senior*innen in relativer Altersarmut, darunter auch eine große Anzahl an Shoa-Überlebenden.
Rhetorik ohne Wertschätzung
Die Journalistin Erica Zingher stellt sich hinsichtlich der jüdischen Altersarmut die Fragen: „Wie viel ist man bereit, für diese Geschenke auszugeben?’ Welche Wertschätzung bringt, man diesen Geschenken entgegen?” Aber vielleicht ist es auch etwas sehr deutsches, dass erst kurz vor knapp Geld für Geschenke ausgegeben wird. Oder in den Worten von Erica Zingher: „Ihnen das zu geben, was längst überfällig ist. Denn ja, Geschenke kosten.”
Geschenke kosten und auch die Sicherheitsmaßnahmen vor jüdischen Einrichtungen müssen finanziert werden. Denn seit 2019 ist kein jüdische Feiertagssaison ohne Polizeieinsatz ausgekommen. Der rechtsterroristische Anschlag von Halle im Jahr 2019, in Hamburg wird 2020 ein jüdischer Student an Sukkot vor einer Synagoge mit einem Spaten angegriffen, an Jom Kippur 2021 wird ein islamistischer Anschlag in Hagen verhindert und dieses Jahr an Jom Kippur ging ein Fenster in einer Synagoge in Hannover zu Bruch.
363 Tage Vernachlässigung
Das Erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus ist in Anbetracht dieser Geschehnisse und den antisemitischen Erfahrungen vieler Jüdinnen*Juden wichtig. Aber diese beiden Tage können nicht das ersetzen, was an den restlichen 363 Tagen im Jahr vernachlässigt wurde.
Wir leben In einer Zeit in der sich die extreme Rechte vom “Schuldkult” lösen möchte, der “Judenstern” zum beliebtesten Accessoire auf verschwörungsideologischen Demonstrationen wurde oder auf einer der bedeutendsten Kunstausstellungen die israelische Politik mit der des Nationalsozialismus gleichgesetzt und von 738 000 Menschen besichtigt wurde.
Und nichtsdestotrotz sind jüdische Erfahrungen heutzutage nicht nur durch Antisemitismus geprägt. Einige haben sogar noch nie Antisemitismus erlebt, viele wollen sich nicht über ihn definieren und andere befassen sich auf einer professionellen Ebene mit Antisemitismus.
Judentum ist mehr als Antisemitismus und Judentum ist mehr als die Erwartungen, die in Deutschland an uns gerichtet werden. Die Bedeutung des 9. November und des 27. Januar kennen wahrscheinlich die meisten Menschen in Deutschland. Aber wer weiß, wann dieses Jahr Chanukka beginnt?
Das jüdische Lichterfest beginnt dieses Jahr am Sonntag, den 18. Dezember. Anstatt die nächste lebende jüdische Person mit Fragen über Antisemitismus zu löchern, wäre ein Happy Chanukka oder ein “schöne Feiertage” statt der normativen Annahme, dass Menschen im angeblichen christlich-jüdischen Abendland nur Weihnachten feiern, schöner. Denn es ist auch unsere Feiertagsaison.
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