Brillen im Blumengarten: Die Bayreuther Festspiele eröffnen mit „Parsifal“
Nanu, denkt man sich, falsches Stück? Eigentlich war doch „Parsifal“ annonciert, doch was die Natur hier auf dem Grünen Hügel aufführt, fühlt sich eher an wie der Beginn von „Walküre“: Ein monströses Gewitter entlädt sich kurz vor 16 Uhr, die traditionellen Blechbläser auf dem Balkon fallen aus, gewaltige Wassermassen ziehen in Sturzbächen den Hang hinunter. Trotz Dankbarkeit für jeden Regen: Wer kann, rennt, rettet, flüchtet sich in Abendgarderobe unters nächste Vordach oder gleich ins Festspielhaus. Buken vergangene Julitage in Bayreuth häufig in brutalem Sonnenschein und nahm einem die Hitze im aus Denkmalschutzgründen unklimatisierten Saal die Luft zum Atmen, ist dieses Jahr alles anders: 23 Grad, eigentlich perfektes Festspielwetter. Prominente wie Ursula von der Leyen werden halt von einer Schirmphalanx eskortiert, Markus Söder harrt im Auto aus und zeigt sich dann nur kurz der trotzdem wartenden Menge.
Zu den zahlreichen Mysterien des Festspielhauses gehört, dass es keine Aufenthaltsräume gibt, dass das Publikum vor Spielbeginn und in den Pausen im Freien steht, dass der Betrieb ohne die Außenanlagen gar nicht funktionieren würde. Schwierig, bei diesem Wetter. Und so drängen sich jetzt alle in den Treppenhäusern, die dafür gar nicht auslegt sind – um einem anderen Mysterium entgegenzublicken, Wagners letzte Oper, in der er Christus in zwei Figuren aufspaltet, in Amfortas, den Leidenden und in Parsifal, den Erlöser. Dieses „Bühnenweihfestspiel“ hat eine besondere Bedeutung für Bayreuth, ist es doch als einziges der zehn kanonischen Opern explizit für die akustischen Bedingungen hier geschrieben und durfte bis zum Auslaufen der Rechte 1913 auch ausschließlich hier aufgeführt werden, was die Mystifizierung noch zusätzlich gesteigert hat.
Ein kosmisches Dirigat
Pablo Heras-Casado dirigiert als Hügel-Debütant die elfte Inszenierung seit der Uraufführung 1882, und wenn es noch irgendeines Beweises bedurft hätte, dass Attribute wie „leidenschaftlich“ oder „feurig“ für Spanier nur blöde Klischees sind, hätte ihn dieser Abend geliefert: Im allerbesten Sinne ausgewogen und umsichtig, trotz raschem Tempos ganz bei sich und hochinspiriert, quasi in die Breite verströmend, ja: kosmisch und damit sehr gut zur Gralsmusik passend ist das, was aus dem Graben dringt, ein fantastisches Parsifal-Dirigat. Und ein großes Glück, denn es kompensiert zumindest teilweise, was die Szene auf offener Bühne schuldig bleibt.
Wobei der Begriff „offene Bühne“ hier nicht gut funktioniert, denn es gibt zwei Bühnen, eine reale und eine zusätzliche, die man nur sieht, wenn man Augmented Reality (AR)-Brillen aufsetzt, das große Ding in diesem Jahr, doch offenbar aufgrund der hohen Kosten nur für wenige Besucher verfügbar, rund 300 von 2000 Plätzen sind so ausgestattet. Jay Scheib heißt der amerikanische Regisseur, der die Technik mit einem Team um Joshua Higgason entwickeln hat lassen. Die Geräte haben ein gewisses Gewicht, drücken auf die Ohren und erwärmen sich. Eingespeist werden die Informationen mittels Kabel.
In den ersten Minuten wäre „nett“ wahrscheinlich die passendste Bezeichnung. Zu Wagners galaktischer Musik sieht man Sterne vorbeifliegen, oder sind es Glühwürmchen, wer hat eigentlich, siehe Insektensterben, das letzte Mal reale Glühwürmchen gesehen? Auch Planeten, Bäume, später ein Fuchs surren umher, man muss das nicht unbedingt verstehen, lieber immer wieder mal die Brille abnehmen, um das Geschehen auf der Bühne pur zu sehen. Setzt man sie wieder auf, sind da immer noch die Sternchen, man verpasst nichts.
Manchmal gibt es eine zusätzliche Ebene des Verstehens
Das Ganze entwickelt sich kaum weiter. Die Motive sind meist illustrierend, erlegt Parsifal den Schwan, flattert da ein Schwan, das virtuelle Blut tropft in die Tiefe. Nur manchmal emanzipiert sich die AR, bietet eine zusätzliche Ebene des Verstehens. Wenn Kundry ruft: „Seine Mutter ist tot“, dreht sich ein Fachwerkhaus, das erst aufzugehen scheint wie ein Kuchen und schließlich anfängt zu brennen: drastische Verdeutlichung, dass Parsifal in jenem Moment auch noch das letzte bisschen Heimat verliert, das er glaubte, gehabt zu haben. Doch solche Augenblicke sind selten.
Die tatsächliche Bühne (Mimi Lien) ist relativ karg ausstaffiert, sieht man mal von Klingsors (Jordan Shanahan) in psychedelischen Bildern gemalten Zaubergarten im zweiten Aufzug ab, und natürlich huschen hier, man hat nichts anderes erwartet, viel virtuelle Blumen vorbei. Ansonsten Leere, als Gralsburg muss ein riesiger Neonröhren-Kranz genügen. Fast wirkt es so, als sei diese Nüchternheit Konzept, um der Augmented Reality einen möglichst großen Auftritt zu ermöglichen. Ungünstig, wenn man keine Brille hat. Auch nicht viel besser, wenn man eine hat. Im Grunde liefert Jay Scheib eine völlig konventionelle Inszenierung.
Ist es das wert? Kann Oper mit AR ein neues Publikum locken, das den zur Selbstverständlichkeit gewordenen Dauerbeschuss digitaler Reize so gewohnt ist, dass es eine „normale“ Bühne und „einfach nur Musik“ als leer und langweilig, ja als Zumutung empfindet? Vielleicht – eine Tür ist geöffnet, das Potential ist da. Aber man müsste es kreativer, intelligenter auch nutzen als das, was am Dienstagabend präsentiert worden ist.
Dass man mich einmal nicht hört!“
Tenor Andreas Schager bei der digitalen Pressekonferenz
Guten Gesang wird hoffentlich keine AR, keine KI jemals ersetzen. Einspringer Andreas Schager beweist als Parsifal erneut seine Verlässlichkeit. Der Österreicher ist kein genialischer Tenor, der an beiden Enden brennt, aber er besitzt enorme Kondition, auch wenn die Rolle längst nicht so herausfordernd ist wie etwa die des Siegfried, den er ja ebenfalls singt. Humor hat Schager auch – Mikrofonprobleme bei der digitalen Pressekonferenz am Vortag kommentiert er mit den Worten „Dass man mich einmal nicht hört!“
Elina Garanca begeistert den Saal, weil sie als Kundry durch alle Tiefen der Hölle geht, Georg Zeppenfeld ist erneut ein fantastischer, großartig textverständlicher, mit resonierendem Bass singender Gurnemanz, Derek Welton ein stimmlich aufwühlender, optisch allerdings kaum an seiner Wunde laborierender Amfortas. Tobias Kehrer windet sich als Titurel kreaturengleich auf dem Boden, so dass es mächtige Effekt macht, wenn eine gewaltige Stimme diesem Körper entfährt.
Für AR-Brillen-Besitzer tanzt im letzten Aufzug eine Plastiktüte vor den Augen: Soll es die Taube sein, das Zeichen göttlicher Gnade? Wenn ja, wäre es bitterer Sarkasmus, die im Ozean treibende Plastiktüte ist ja vielmehr Symbol des Umwelthorrors, den Homo Sapiens (der „weise“ Mensch) auf seinem Heimatplaneten entfacht hat. Parsifal lässt am Ende den Gralskelch einfach fallen, er „zerdeppert“ ihn, wie man in Franken sagt, und zieht mit Kundry davon. Ein Schockmoment, die folgenden Minuten nehmen dadurch eine andere Bedeutung an: Singen die Gralsritter von Erlösung, meinen sie dann Erlösung von dem Götzendienst, den die Anbetung des Grals bedeutet hat? Da wird es dann doch nochmal interessant. Insgesamt reicht aber, was Spannung betrifft, nichts an den Sturzregen zu Beginn des Abends heran.