Als der Westen die Ukraine im Stich ließ : Getreide als Waffe

Unter sowjetischer Herrschaft glich die Ukraine vor 90 Jahren einem „riesigen Bergen-Belsen“, schrieb der Historiker Robert Conquest in seinem Klassiker von 1985, „The Harvest of Sorrow“, auf deutsch 1991 unter dem Titel „Die Ernte des Todes“ erschienen. „Ein Viertel der Landbevölkerung war tot oder lag im Sterben. Die übrigen hatte der Hunger so entkräftet, dass sie nicht einmal ihre Angehörigen begraben konnten. Zur selben Zeit überwachten wie in Bergen Belsen wohlgenährte Polizei- oder Parteiverbände ihre Opfer.“ Bis zu zehn Millionen, besagen die Schätzungen, seien zwischen 1930 und 1933 umgekommen.

Doch diese kosmische Tragödie, der Holodomor, wurde in der Sowjetunion totgeschwiegen. Im Westen blieb sie lange weitgehend unbeachtet. Conquest, 1968 durch „The Great Terror – Stalins Säuberungen in den Dreißiger Jahren“ berühmt geworden, war einer der bedeutendsten Osteuropa-Forscher seiner Zeit. Nach dem Ende der Sowjetunion galt er als „der Mann, der Recht hatte“. In der Ära Gorbatschow führte er die russischen Bestsellerlisten an.

Sein Werk über den Holodomor, die versuchte Vernichtung eines Volkes durch Hunger, sollte heute wiedergelesen werden. Die Geschichte wiederholt sich, das Morden findet vor unseren Augen statt. Die Auslöschungsfantasien, die durch die Hirne des Putin-Regimes geistern, spiegeln die von vorgestern – auch das Vokabular. Wer heute von „Krieg“ redet, riskiert seine Freiheit; der sei bloß eine „militärische Sonderoperation“. Damals war das verbotene Wort „Hunger“. Der Begriff war „konterrevolutionär“ oder galt als Propaganda für Hitler.

Die Wurzeln dieser Sprachregelung gehen noch weiter zurück. Schon 1863, unter Alexander II., besagte ein Edikt, dass es keine ukrainische Sprache gebe, sondern nur einen Dialekt. Ukrainische Bücher wurden verboten, Schulen und Verlage geschlossen. Trotzdem entzogen sich die Bauern der rabiaten Russifizierung. Sie pflegten die Balladen und Lieder über ihre Helden im Hetmanat und Sitsch, beide kurzlebige Phasen ukrainischer Eigenständigkeit.

Der stete Angriff auf Sprache und Kultur konnte dennoch das Nationalgefühl der Ukrainer nicht auslöschen. Die Bauern sprachen weiter ukrainisch und hielten ihre Folklore hoch. Der Nationaldichter Taras Schewtschenko setzte die Erniedrigung durch Russifizierung mit der Leibeigenschaft gleich. Er wurde für zehn Jahre nach Sibirien verbannt. Warum wissen wir so wenig über die Ukraine? Das russische Narrativ, das die Ukraine seit Jahrhunderten zu „Kleinrussland“ erklärte, wurde im Westen übernommen. Ebenso die Landkarten, welche die Ukraine stets als Teil Russlands darstellten.

Robert Conquest aber hält fest, dass „die Ukrainer historisch eine alte Nation“ waren, die der Unterwerfung stets getrotzt haben. „Die Kiewer Großfürsten herrschten über alle Ostslawen, aber als Kiew 1240 von den Mongolen erobert wurde, wurde das Reich zerschlagen.“ Wüssten wir mehr über die Geschichte des ukrainischen Freiheitskampfes sowie über die Millionen Hungertoten im Holodomor, verstünden wir besser, was den gegenwärtigen Widerstand des Landes antreibt. Deportation, Aushungern, Unterjochung sind nur ein neues Kapitel in der leidvollen Geschichte der Nation.

Sie hatten das fruchtbarste Land der Welt in eine melancholische Wüste verwandelt.

Der britische Journalist Malcolm Muggeridge 1933 über die russischen Kommissare

So wie Stalin hinter der menschlichen Tragödie von 1930-33 stand, handelt auch Putin im gegenwärtigen Krieg. Stalin log, dass in der Hungerkatastrophe kein Sowjetbürger darben müsse. Putin behauptet wider alle Fakten, dass keine Zivilisten je angegriffen worden seien. Untaten, die nicht wegzulügen sind, werden als Einzelfälle bagatellisiert.

Damals wurde den Bauern ihr Korn und Viehfutter weggenommen, die Nutztiere verendeten massenweise. Häuser zerfielen, Dörfer entleerten sich, Millionen Kinder, die Schwächsten, verloren ihr Leben. Die Hungerkatastrophe machte aus einem fruchtbaren Land mit wogenden Feldern eine von Unkraut überwucherte Landschaft, die der Situation im 30-jährigen Krieg ähnelte. Heute machen die Bomben Städte platt. Dörfer sind entleert, Felder lieben brach.

Das Mahnmal in einem Park in Kiev zur Erinnerung an die über fünf Millionen Opfer des Holodomor.
Das Mahnmal in einem Park in Kiev zur Erinnerung an die über fünf Millionen Opfer des Holodomor.
© Foto: dpa/SERGEY DOLZHENKO

Ein Bauer wurde weiland erschossen, weil er 25 Pfund Weizen besaß, den seine kleine Tochter aufgelesen hatte. Für den „Diebstahl“ von Kartoffeln oder Zwiebeln gab es zehn Jahre. Dito für eine Frau, deren Mann verhungert war. Ihr Verbrechen? Sie hatte hundert Maiskolben auf dem eigenen Feld geerntet. „Weizendiebe“ wurden oft erschossen. Das falsche Wort führte in den Gulag. Ein Arzt wurde verurteilt, der erzählt hatte, seine Schwester sei verhungert, weil ihre Lebensmittel beschlagnahmt worden waren. Einzelschicksale, die sich tausendfach wiederholten.

Und die Schuldigen? Aus kommunistischer Sicht waren es im Holodomor die renitenten Bauern, heute sind es Nationalisten und Nazis. Ein Politkommissar dozierte weiland: „Es ist ein Kampf auf Leben und Tod. Es erforderte eine Hungersnot, um ihnen (den ukrainischen Bauern) zu zeigen, wer hier der Herr ist. Sie hat Millionen Menschenleben gekostet, aber die Kollektivierung ist geblieben. Wir haben den Krieg gewonnen.“

Der britische Journalist Malcolm Muggeridge nannte 1933 die russischen Kommissare „einen Schwarm Heuschrecken, die über das Land gekommen waren und alles Essbare mitgenommen hatten. Sie hatten das fruchtbarste Land der Welt in eine melancholische Wüste verwandelt.“

Damals wurden Felder verbrannt, heute werden Silos zerschossen

Alles déja vu. Wieder soll die Kultur und Identität ausradiert, das Land unterworfen werden. Seit Ende der Sowjetunion, seit dreißig Jahren, klammern sich die Ukrainer an ihre Selbstbestimmung. Sie wissen seit Jahrhunderten, was die russische Knute bedeutet. Deshalb will die große Mehrheit des Volkes den Kampf nicht aufgeben. Es weiß, was ihnen blüht, wenn der frühere Präsident und Premier Dimitri Medwedew, Putins Marionette, das ukrainische Nationalgefühl als „antirussisches Gift“ denunziert, als „alles verschlingende Lüge“. Die Unterwerfung der Ukraine müsse sein, „um endlich ein offenes Eurasien zu bauen“, sprich: ein neues Imperium. Das lässt keinen Raum für Illusionen.

Bei den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung in der Ukrainischen Volksrepublik 1917 erhielten die Bolschewiken nur 10 Prozent. Die Menschen wählten überwiegend Sozialdemokraten und Sozialrevolutionäre. Gerächt haben sich die Bolschewiken schon danach mit dem allerersten Kornraub, gemäß Lenins Aufruf: „Korn, Korn, und noch mehr Korn (nach Russland) schicken!“

Auch heute benutzen die Putinisten Getreide als Waffe, indem sie das wichtigste Exportgut der Ukraine nach Belieben blockieren oder durchlassen oder einfach nur klauen. Vor neunzig Jahren wurden Felder verbrannt, heute werden Silos zerschossen. Korn ist der Ukrainer Stolz und Fluch zugleich, immer wieder.

Auch die Seelenvernichtung durch Sprachverfügung gab es schon damals

Ein Jahr vor seiner Ermordung 2015 notierte der Putin-Kritiker Boris Nemzow: „Der Kreml kultiviert und belohnt die niedrigsten Instinkte der Menschen, um Hass und Kampfbereitschaft zu fördern. Diese Hölle kann nicht friedlich ausgehen.“ Die unsäglichen Verwüstungen und Morde von Butscha bestätigen die Voraussage. Putin verleugnete die Ereignisse nicht nur, er zeichnete die Schlächter hinterher im Kreml auch noch aus.

Genau diese staatlich verordnete Verrohung wurde schon von Nikolai Bucharin, dem Revolutionär der ersten Stunde, als schlimmstes Ergebnis der Hungerstrategie von 1930-1933 angeprangert. Ihn bedrückte „die tiefgreifende Veränderung der Psyche jener Kommunisten, die an dieser Kampagne mitwirkten und, anstatt verrückt zu werden, zu professionellen Bürokraten wurden. Für sie wurde Terror zur normalen Verwaltungsmethode. Gehorsam gegenüber jedem Befehl von oben wurde zur Tugend.“ Bucharin, Stalins „Golden Boy“, hat den Terror nicht überlebt, er wurde 1938 während der Säuberungen umgebracht.

Die totalitäre Seelenvernichtung durch Sprachverfügung ist eine vertraute Geschichte. In seinem Buch „LTI“ über das Neusprech des Dritten Reiches hat Victor Klemperer gezeigt, wie es funktioniert. Das traditionelle Denken musste verlernt werden, damit sich der Faschismus in den Köpfen durchsetze; George Orwell hat die Strategie in seinem unsterblichen „1984“ festgehalten. Wird ein Begriff ausgemerzt, kann man ihn nicht mehr denken. Der Sinn? Wie im Dritten Reich will die Sprachregelung des Kreml jetzt das Tun bestimmen, das von der Propaganda legitimiert wird: Gewalt und Gemeinheit. Wie 1933 findet sich im heutigen Kreml-Vokabular die verräterische Silbe „Ent“, in „Entukrainisierung“ und „Entnazifizierung“.

Sollen da die Ukrainer aufhören, für ihre Unabhängigkeit zu kämpfen, wie ihnen so manche westliche Einlassung rät? Für die allermeisten ist die Antwort klar. Denn auf der anderen Seite stehen Menschen, die „Terror als normale Verwaltungsmethode“ einsetzen. Doch gibt es einen tröstlichen Unterschied zwischen damals und heute. Diesmal hat die Ukraine den Westen auf ihrer Seite. Der ignoriert sie nicht wie 1930 bis 1933. Er schickt einen Strom von Waffen und Dollarmilliarden. In unserer Zeit hat die Ukraine eine Chance, die sie im Holodomor nie hatte.

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