Bitterböse Satire aus der Ukraine: Die Wahrheit in einem Meer von Lügen
Eigentlich will er nur Murmeltiere fotografieren, eine aussterbende Art. Aber dann beobachtet der junge Umweltaktivist Yura, wie die Wälder im Naturschutzgebiet in der Südukraine in Brand gesteckt werden: kriminelle Machenschaften profitgieriger Unternehmer. Bei der Lokalpresse interessiert sich niemand für die Story, nach dem Motto: Was soll die eine Wahrheit in einem Meer von Lügen!
Gerade ist Wahlkampf fürs Bürgermeister-Amt, da gilt es, die Kandidaten mit lustigen Tanzvideos in Szene zu setzen, damit sie auf Social Media viral gehen: „The Editorial Office“, eine wilde Medien- und Politsatire aus der Ukraine, der zweite Langspielfilm des ukrainischen Regisseurs Roman Bondarchuk.
Und ein Film, der im Herbst 2021 in der Region Cherson gedreht wurde, die inzwischen verwüstet ist. Die Wälder wurden von den Russen für ihre Befestigungsanlagen endgültig gerodet, die Steppe ist von Bomben und Panzern zerstört, die Dünen sind von den Wassern des Stausees geflutet, nachdem die Russen den Kachowka-Damm sprengten. So dokumentiert der Film auch eine Umweltkatastrophe: Er zeigt, was zerstört wurde.
Roman Bondarchuck pendelt zwischen der Ukraine und England. Hier die Arbeit und seine Projekte, dort die Familie: Er und seine Frau wollten die Kinder in Sicherheit bringen, erzählt der 42-Jährige im Videocall. Seit bald zwei Jahren ist er ständig unterwegs. Die Wohnung seiner Eltern im bis heute umkämpften Gebiet wurde bombardiert; die Bibliothek, persönliche Erinnerungen, alles weg. Und das Sommerhaus der Familie auf einer der Inseln im Dnipro-Delta wurde ins Schwarze Meer geschwemmt. Ein Auto besaßen die Bondarchuks lange nicht, aber ein Motorboot: „In der Stadt haben wir gearbeitet, auf der Insel haben wir gelebt“. Erste Freundschaften, erste Liebe, es sind prägende Erinnerungen. Als Groteske ist „The Editorial Office“ denkbar unsentimental, und doch zollt der Film den tragisch-schmerzhaften Verlusten Tribut.
Wie stellt man einen Film unter Kriegsbedingungen fertig? „Wir hatten ihn zur Hälfte geschnitten, da schloss sich unser Editor Viktor Onysko Armee an, er wurde Kommandant und fand es wichtiger, sein Land mit der Waffe zu beschützen.“ Onysko wurde im Dezember 2022 von den Russen getötet, ihm ist der Film gewidmet. Am Ende half Heike Parplies dem Team beim Schnitt, unter anderem war sie bei „Toni Erdmann“ für die Montage verantwortlich.
Den Epilog, ein surreales, internationales Polit-Event – mehr soll hier nicht verraten werden –, haben sie dann in der Slowakei gedreht, schon aus Sicherheitsgründen. Er spielt in der nahen Zukunft, nachdem die Ukraine den Krieg gewonnen hat. „Ich konnte keine Szene drehen, die im Krieg spielt“, sagt Bondarchuk. „Der Krieg ist so grausam, dass jede künstlerische Repräsentation armselig und falsch wäre.“
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Und wie ist das mit der beißenden Kritik an politischen Missständen und leichtgläubigen Wählern, jetzt, wo alle Ukrainer zusammenstehen? Bondarchuk holt kurz aus: „Der Humor steht auch dafür, dass wir die Freiheit haben, in unserer demokratischen ukrainischen Gesellschaft offen über Missstände zu diskutieren“. Er erzählt, wie er mit 14 als Fotograf bei der ersten kommerziellen Zeitung in Cherson jobbte, wo sein Vater arbeitete. Die Redaktion war in ein paar Hotelzimmern untergebracht, ein schräges Szenario, ähnlich wie im Film.
Schon damals, in den Neunzigern, lernte er, wie groß die Diskrepanz zwischen der Realität und Medienberichten sein kann. Bei Rechercheinterviews zum Film erfuhren sie zum Beispiel, wie ein Journalist Geschichten von vermeintlichen Verbrechen in der Provinz erfand, weil sie sich bestens verkauften. Er wurde populär damit, dass er die Legende von der gefährlichsten Region der Ukraine verbreitete.
„Regionalwahlen sind bei uns oft eine lächerliche, absurde Sache.“ Bis heute seien viele Lokalpolitiker hoffnungslos von gestern. Dennoch sei die Story über korrupte Politiker, profitgierige Unternehmer und leichtgläubige Wähler im Mikrokosmos einer südukrainischen Kleinstadt universell. Im Film wird ein Kandidat zum Bürgermeister gewählt, der im Koma liegt, und dessen Team ihn wie einen fitten, tatkräftigen Manager aussehen lässt. „Die Geschichte ist surreal, aber wahr“, so Bondarchuk, „in Charkiw in der Ost-Ukraine ist das tatsächlich passiert. Und wir wissen nicht, wie viele Doubles von Putin es gibt, existiert das Original überhaupt noch? Politik als Show, bei Donald Trump ist das nicht anders.“
Nun ja, auch Wolodymyr Selenskyj war ein Show- und TV-Star, bevor er Präsident wurde. Bondarchuk zögert kurz, bis er den Zusammenhang zwischen Selenskys Popularität und dessen Wahlerfolg benennt. Dann schwenkt er um. Die Ukraine verschwinde allmählich von der internationalen Bildfläche. Auch Kyiv wird wieder regelmäßig bombardiert, „gleichzeitig gehen uns die Waffen aus. Aber anders als im Film ist der Krieg noch lange nicht vorbei. Mit ,The Editorial Office‘ wollen wir auch daran erinnern, dass wir in diesem Krieg die gesamte zivilisierte Welt verteidigen.“
Der Aktivist und Journalist Yura wird von Dmytro Bahnenko gespielt. Der couragierte Investigativjournalist berichtete vor dem Krieg über die Brände und illegalen Sägemühlen und legte sich öffentlich mit dem prorussischen Politiker Kirill Stremousov an, der Verschwörungstheorien verbreitete und in die Brandstiftungen verwickelt war.
Bahnenko recherchierte mit für den Film, Bondarchuk freundete sich mit ihm an, bis er schließlich nach aufwändigen Castings entschied, die Hauptrolle dem zu geben, der von der Sache am meisten versteht. Spielfilme mit Laiendarstellern, Hybridwerke zwischen Doku und Fiction: Bondarchuk hat sich damit einen Namen gemacht, mit Filmen wie „Volcano“ (2018) und dem Oscar-Kandidaten „Ukrainian Sheriffs“ (2015).
Und das Murmeltier, immer wieder im Film zu sehen, ist es computergeneriert? „Schön, dass Sie fragen. Offenbar sieht man nicht gleich, dass es nicht echt ist“, freut sich Bondarchuk. Eigentlich wollten sie die Murmeltiere in den Dünen von Cherson in ihrem natürlichen Habitat filmen. Eine aufwändige Sache, da die Tiere sehr scheu sind. Aber dann begann die Invasion, also wurde es ein im Koproduktionsland Tschechien entwickeltes, leicht vergrößertes CGI-Murmeltier. „So ahnt man gleich am Anfang, dass im Film manches wie unter einem Brennglas erscheint“.
Bondarchuk dreht nicht nur Filme, er leitet auch das Festival Docuday UA, das Ende Mai wieder in Kyiv stattfindet, mit Ablegern in der Provinz, wo die Festivalbeiträge in Schulen, Büchereien, Gefängnissen, Krankenhäusern und Luftschutzbunkern gezeigt werden. Das Netzwerk wird immer größer. „Die Russen wollen, dass sich Verzweiflung breitmacht und wir keine normalen Dinge mehr tun“, sagt der Filmemacher.
Festivals organisieren, Kultur schaffen, Vorstellungen besuchen, selbst wenn nachts die Bomben fallen: Bondarchuk nennt es eine Art Widerstand. Auch das Filmemachen selbst. „Ich glaube, dass Film die Realität formen kann und dass diese dann bessere Plots hervorbringt“, sagt er. Es ist seine Investition in die Realität, und in eine bessere Zukunft für die Ukraine.