Schul-Doku „Favoriten“ im Kino: Kampfsport Integration
Was ist wichtiger, Mama oder Gott? Als die Filmemacherin die Schulkinder mit Handykameras (ohne Internetzugang) ausstattet, interviewen die Kids sich gegenseitig. Zuvor hatten die Jungs im Unterricht zum Besten gegeben, dass Buben alles dürfen, außer schlagen und schubsen, und dass Mädchen hübsch sein sollen.
Willst du heiraten, wollen die Mädchen nun voneinander wissen. „Nein“, sie wollen lieber eine gute Arbeit, Zeit für Abenteuer und für sich selbst. Ihre Berufswünsche? Hodscha, Polizistin, Wissenschaftlerin, Krankenschwester.
Die österreichische Dokumentarfilmerin Ruth Beckermann stellt in ihren Filmen ebenso drängende wie verdrängte gesellschaftliche Fragen: nach der Mitverantwortung am Nationalsozialismus („Jenseits des Krieges“), nach Austrofaschismus und Antisemitismus („Waldheims Walzer“) oder zuletzt, in „Mutzenbacher“, nach erotischen Fantasien.
Für ihre jüngste, auf der Berlinale uraufgeführte Produktion „Favoriten“ begleitete sie drei Jahre lang mit einem kleinen Team eine Volksschulklasse im Wiener Bezirk Favoriten, einem sogenannten Problemviertel. Alle Schülerinnen und Schüler sind Migrantenkinder, fast alle sprechen mehrere Sprachen, darunter Tschetschenisch, Russisch, Albanisch, Arabisch, Türkisch, etwas Englisch. Was für ein Wissensschatz. Die Eltern sind Bauarbeiter, Reinigungskräfte, Altenpflegerinnen, will heißen, sie üben systemerhaltende Berufe aus. „Mein Papa macht Zebrastreifen“, sagt einer.
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Aber die Kids tun sich schwer mit dem Deutschen. Sie ringen um Wörter, wollen sich auch schriftlich verständlich machen: Kampfsport Integration. Wenn Melisa, die auf dem Schulhof gerade noch als Tänzerin faszinierte, in Mathe verzweifelt mit dem Abrunden kämpft, spielt sich eine wahre Tragödie ab. Die Kamera von Johannes Hammel bewegt sich auf Pulthöhe, versuchte Nähe, ohne Anbiederung, auch im Wechselspiel mit den Handyvideos der Kinder.
Alltag in einer Schulklasse, ein kleines Thema? Nein, wie schlecht es um die Bildung als Basis der Zivilgesellschaft steht, ist eine ebenfalls drängende, hochpolitische, oft weggeschobene Frage. Alle reden über Integration, gerade in diesen Tagen, hier kann man sehen, woran sie scheitert. Nicht an den wissbegierigen, ihren Verstand gebrauchenden Kindern: Alleine wie sie beim Gespräch über Russland und die Ukraine nach Syrien fragen oder wie Mohammed seinem Kumpel erklärt, was Kultur ist („Nicht, dass du tanzt, sondern wie du tanzt: Kultur ist etwas, nicht irgendetwas“), ist ungemein lehrreich. Sondern an einem Bildungssystem, das die Kinder im Stich lässt und den seit Jahrzehnten herrschenden Bildungsnotstand nicht ansatzweise behebt.
Zu Beginn des Films, wir sind mitten in der Pandemie, muss der Rektor von Wiens größter Volksschule dem Kollegium mitteilen, dass sie vorerst auf die Schulpsychologin und die Sozialarbeiterin verzichten müssen, auch Sprachförderung findet nicht statt, mangels Personal. Weshalb Ruth Beckermanns Film auch „Frau Idiskut und ihre Klasse“ heißen könnte, nach Maria Speths Langzeitstudie „Herr Bachmann und seine Klasse“, dem Berlinale-Publikumsliebling von 2021. Denn die Klassenlehrerin Ilkay Idiskut gleicht vieles aus, mit Engagement, Empathie, Temperament und einer klaren Haltung.
Idiskut agiert nicht nur als Pädagogin, sondern auch als Aerobic-Vortänzerin, Animateurin, Sozialpädagogin, Übersetzerin, Mediatorin und Sekretärin. Vor allem macht sie den Klassenverband zur Schule der Demokratie, fördert Alper, Majeda, Melisa, Mohammed, Nerjiss und die anderen nicht nur, sondern fordert sie heraus, schärft den Gemeinsinn, den Gerechtigkeitssinn.
Dürfen Mädchen Bikinis tragen? „Bauch zeigen ist haram, sagt Papa“, meint ein Mädchen. „Mein Gewand suche ich mir selbst aus“, erwidert Idiskut den skeptischen Jungs. Sobald Gewalt ins Spiel kommt, wird sie unerbittlich, beharrt darauf, dass die Streithähne sagen, was sie getan haben, dass alle Seiten zu Wort kommen, Konflikte verbal ausgetragen werden. Die Macht des Stärkeren? Diskriminierung der neuen Klassenkameradin („Sie hat Läuse“)? Nicht mit Ilkay Idiskut. „Bist du so schwach, dass du Mädchen verprügelst?“, will sie von Ibro wissen.
„Favoriten“ zeigt auch den Religionsunterricht, an dem ausnahmslos muslimische Kinder teilnehmen. Alle anderen wurden von den Eltern abgemeldet. In der Moschee sind sie in ihrem Element, spielen Imam, können die Gebete auswendig. Beim Besuch im Stephansdom wird wiederum klar, wie sich die Mehrheitsgesellschaft Teilhabe vorstellt: „Das ist auch dein Stephansdom“, sagt der Pfarrer. Die Kinder sind mehr daran interessiert, warum es hier figürliche Darstellungen gibt, anders als in der Moschee. Fragen, die nur jemand aufgreifen müsste.
Wenige Monate vor Ende des vierten Schuljahrs geht Ilkay Idiskut in Mutterschutz, niemand übernimmt ihren Job. So sieht die Teilhabe in der Realität aus: Die Chance aufs Gymnasium für wenigstens einige der zwei Dutzend Kinder verringert sich damit noch mehr. Der Abspann verrät zwar, dass sich in letzter Sekunde doch noch Ersatz fand. Aber das ist nur ein schwacher Trost angesichts des Bildungshungers der Kinder, um deren Zukunft sich kaum einer schert. Lehrer wie Ilkay Idiskut kämpfen auf verlorenem Posten.