Schule der Empathie: „Mothers – A Song for Wartime“ im Gorki Theater
In seiner langen Geschichte ist dem Theater der Chor weitgehend abhandengekommen. Einst ein Fundament der Tragödie, eine demokratische Instanz, überlebt er vor allem noch in der Oper. Es ist auch schon wieder Jahrzehnte her, dass Einar Schleef mit seinen Chören die Bühne erschütterte. René Pollesch hat mit dem Chor gespielt, Ulrich Rasche lässt in seinen Inszenierungen das Ensemble chorisch sprechen. Meist wirkt das Archaische heute exotisch: Wir haben das Pathos verlernt.
Das Theater – sprachlos?
Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine änderte sich die Wahrnehmung plötzlich und radikal. Solidarität und Empathie sind bitter notwendig, und die doch sonst so aktionistische Kulturszene tut sich schwer damit, künstlerische Ausdrucksmittel für die Kriegssituation zu finden – oder überhaupt eine Haltung dazu. Die massive Irritation hat sich nach den Gräueltaten der Hamas in Israel noch einmal zugespitzt. Israel wird in einen Krieg gezwungen. Bei den einen zerfallen hierzulande Weltbilder, bei anderen verfestigen sie sich. Man fürchtet sich vor einem falschen Wort.
Heute brauchen wir ausschließlich Wörter, die Leben retten.
Serhij Zhadan, Schriftsteller
Und es ist jetzt vielen Menschen überhaupt nicht danach, ins Theater zu gehen und irgendetwas sich anzuschauen. Oder gerade doch: Ist das Theater nicht ein Ort, der Gemeinschaft schenkt, ein freier Raum, um sich auszutauschen? Die polnische Regisseurin Marta Górnicka versteht sich auf Rituale und weiß zu vermitteln, dass darin eine Kraft liegt, die aus der Tiefe der Theatertradition kommt. Ihr Chorstück „Mothers – A Song for Wartime“ gastierte in einer frühen Version beim Festival in Avignon, hatte Premiere in Warschau und zeigt sich nun in Berlin, am Maxim Gorki Theater, leider nur für drei Vorstellungen (noch einmal am 9. November). Es ist ein Lehrstück im besten Sinn, ein Beispiel.
Ein zartes Frühlingslied
Marta Górnicka arbeitet mit einem Frauenchor, Frauen aus der Ukraine und Belarus, die nach Polen geflüchtet sind. Sie haben Dinge gesehen und erlebt, für die es keine Worte gibt. Von denen sie hier sprechen und singen, gemeinsam, in klarer und strenger Form. Mit einer Haltung, die bewegt und erschüttert. 20 Frauen. Die Älteste ist 71, und ganz vorn in der Reihe steht ein zehnjähriges Mädchen. Sie muss nicht nur all das Schrecklich anhören, sie geht in einigen Szenen voran.
Für „Mothers – A Song for Wartime“ gab es einen Open Call, die Frauen wurden gecastet. Ein Jahr dauerte die Arbeit. Oft wurde nur am Wochenende geprobt, die Frauen müssen arbeiten. Eine Musiklehrerin aus Cherson erzählt, dass sie in Warschau putzen geht. Sie kann wunderschön singen, wie alle in diesem Chor. Das Stück schafft harte Kontraste. Das zarte Lied vom Vogel, der den Frühling ankündigt. Die Berichte von den Vergewaltigungen, von den russischen Soldaten, die das Verbrechen vor Zeugen begehen, um noch mehr Schrecken zu verbreiten. Die Erinnerungen an Familie und Haus und Garten, die zurückgelassen werden mussten. Górnickas Ensemble findet Worte für das kollektive Gedächtnis. Für die Angst, den Verlust, die Trauer, die Wut. Für die Träume vom Frieden und das Danach.
Spottlied auf Europa
Der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan wird zitiert: „Heute brauchen wir ausschließlich Wörter, die Leben retten.“ Marta Górnicka hat nicht nur Regie geführt, sondern auch das Libretto geschrieben – mit einem spöttischen Schlaflied für Europa, das nicht genug unternimmt in dieser Katastrophe. Ein Skandal, dass der Osten so weit entfernt ist, heißt es sarkastisch.
Sie stehen. Sie gehen. Sie treten auf der Stelle, drehen sich. Bilden einen Kreis, eine Gasse, kommen in die Diagonale. Wenn sie an die Rampe marschieren, hat es nichts Militärisches: Sie zeigen Entschlossenheit und Geschlossenheit. Die Choreografie von Evelin Facchini schafft Räume mit einfachen Formen. Nie hat man das Gefühl, dass die Frauen in ein Konzept gestellt werden. Sie haben es sich zu eigen gemacht. Man schaut in ihre Gesichter, hört ihnen zu (die Texte werden auf Englisch und Deutsch projiziert). Man sieht ein Kollektiv von Individuen in Alltagskleidung, das sich immer wieder neu gruppiert mit beeindruckender Disziplin.
„Bilder und Mythen werden wie Metaphern zu Gefühltem und Gedachtem beschworen; fast immer verschränken sich Gemütsbewegung und Reflexion“. So verstand der Theaterhistoriker Siegfried Melchinger den antiken Chor. So wird „das Nachdenken oder das Mit-Leiden in Gang gebracht.“ Es ist das, was jetzt gebraucht wird.
Und wenn die Vorstellung der „Mütter“ auch nur eine Stunde dauert: Eine Ewigkeit wird durchmessen, ein Grauen, das anhält. In den vergangenen Tagen haben die Kriegsverbrecher im Kreml das Bombardement des Nachbarlands noch einmal verstärkt, mit vielen zivilen Opfern. Der russische Angriffskrieg geht in den nächsten Winter. Gibt es eine Steigerung von unfassbar? „Never again“, skandiert der Chor am Ende. Aber ein Ende gibt es nicht. Das „again“ bleibt stehen, das Wieder und Wieder. Zu Ende ist nur ein starker Theaterabend.