Zum Tod von Rodney Graham: Antiquar, Musiker, Schiffbrüchiger
Ob als umherziehender Cowboy, französischer Dandy oder klavierspielender Sträfling, ob als Verkäufer in einem Fotogeschäft der 30er Jahre, abstrakter Künstler der 50er Jahre oder alternder Rockstar der 70er Jahre, ob im Foto, Film oder Leuchtkasten – von all den selbstironischen Rollen, Kostümen und Maskeraden, in die der kanadische Künstler Rodney Graham im Laufe von mehr als fünf Jahrzehnten geschlüpft ist, bleibt seine Rolle in dem Film „Vexation Island“, mit dem er den kanadischen Pavillon der Biennale in Venedig 1997 bespielt hat, unübertroffen und unvergesslich.
Der achtminütige Loop in Technicolor und Cinemascope zeigt Graham als Schiffbrüchigen mit blutiger Kopfwunde, der unter einer Palme liegend durch das Krächzen eines Papageis erwacht, den Baum schüttelt, bis ihn eine herunterfallende Kokosnuss wieder zu Boden schlägt – zurück an den Ausgangspunkt des Geschehens als Gefangener seiner selbst. So einfach die Handlung dieser Tragikomödie ist, so vielschichtig und tiefgründig sind ihre Deutungen, bei denen sich doch alles um die buchstäbliche Niedergeschlagenheit dreht.
Mit diesem „Schlag“ seines melancholischen Miniaturdramas eroberte Rodney Graham das Publikum der Biennale im Sturm. Die Anfänge seines vielschichtigen Werks reichen indes in die Mitte der siebziger Jahre in das Umfeld der konzeptuellen Fotoschule von Vancouver zurück, wo Graham erst bei Ian Wallace dann bei Jeff Wall studierte. Hin und hergerissen zwischen Kunst, Literatur und Musik entfaltete sich sein Frühwerk in einer Vielfalt von Gattungen und Strategien, mit denen er sich wie ein professioneller Amateur oder Flaneur durch die Geschichte der Moderne bewegte.
Hin und hergerissen zwischen Kunst, Literatur und Musik
Mit Eleganz, Humor und Melancholie eignete er sich ihre Geschichte an, schrieb sich in ihre Texte ein, entdeckte vergessene Details, machte sich eigene Fußnoten, ergänzte, dehnte, zitierte, imitierte, spiegelte, wiederholte und träumte ihre Träume auf seine Weise. So begegnen wir in seinen Objekten, Fotos, Filmen, Büchern, Bildern, Installationen und Kompositionen einigen Wegbereitern der Moderne des 19. Jahrhunderts ebenso wie wichtigen Protagonisten des 20. Jahrhunderts bis hin zu populären Mythen des Kinos und der Popmusik.
In seiner Fotografie ging Graham auf die Camera obscura zurück, um uns in den berühmten Fotos seiner umgekehrten Bäume die Mechanismen der Wahrnehmung und damit – wie in „Alice’s Wonderland“ – eine auf den Kopf gestellte Welt zu zeigen. In der Literatur erweiterte er Edgar Allen Poes Erzählung „Landors Landhaus“ mit der Beschreibung eines architektonischen Anbaus zu einem ganzen Roman, führte Georg Büchners „Lenz“ bei dessen Wanderung durch das Gebirge im Kreis herum und widmete Stephane Mallarmé ein weißes Oberhemd. Eigentlich wäre Graham ja selbst gerne ein französischer Romancier gewesen, am liebsten Raymond Roussel.
In der Musik dehnte Graham Richard Wagners „Parsifal“ in kosmische Dimensionen, verlangsamte Carl Czernys Geläufigkeitsübungen, teilte Kurt Cobains Sehnsucht nach einem Nirvana, folgte den psychedelischen Klängen Pink Floyds und sang seine eigenen Lieder im Stile von Singer-Songwritern wie Donovan oder Bob Dylan auf der Suche nach der eigenen Stimme.
Die Welt der modernen Kunst betrat Graham hingegen nur mit leichtem Handgepäck: Seit Marcel Duchamps Ready-Made ließ sich das künstlerische Handwerkszeug in einem Koffer verstauen, mit Robert Smithson führte der Weg hinaus in die Natur, während Donald Judds leere Boxen sich als Bücherregale oder Schuber mit Sinn erfüllen ließen. Einen geeigneten Weggefährten und Geistesverwandten hätte Rodney Graham zweifellos in Marcel Broodthaers gefunden, ohne dass sich ihre Wege je gekreuzt hätten.
In seiner späten Hinwendung zur Königsdisziplin der Malerei im Stile des französischen Informel, des synthetischen Kubismus und der Color-Field-Malerei à la Morris Louis vollzog Graham seit 2003 schließlich eine weitere Volte im konzeptuellen Rollenspiel, die ihn als professionellen Amateur ausweist.
Diese Gratwanderung zwischen konzeptuellem Ernst und humorvollem Spiel, verehrungsvoller Hommage und inszenierter Selbstdarstellung, Appropriation und Performance verrät den modernen Melancholiker. Es ist die Melancholie einer Moderne, die unter dem Widerspruch von Innovationsanspruch und Wiederholungszwang leidet. Diesen Widerspruch mit Liebe zum Detail, Sorgfalt und Stil immer wieder neu gestaltet und mit Selbstironie erträglicher gemacht zu haben, verdanken wir Rodney Graham, der jetzt im Alter von 73 gestorben ist.
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