Die fatale Botschaft des Fußballs

In England sind solche Debatten im Rausch des Erfolges der eigenen Mannschaft ein wenig untergegangen. Obwohl die Zahl der Coronainfektionen nun seit Wochen steigen und die Sieben-Tages-Inzidenz inzwischen wieder bei über 200 liegt, sind mahnende Stimmen eher selten. Vielmehr blickt man mit Vorfreude auf den 19. Juli, an dem alle noch geltenden Maßnahmen wie wie Abstandsregeln, Maskenpflicht und Homeoffice aufgehoben werden sollen.

Dabei gibt es durchaus auch Kritik, wie etwa von Professor Stephen Reicher, der als wissenschaftlicher Krisenberater im sogenannten SAGE- Komitee der britischen Regierung sitzt. „Indem man das Stadion für 60.000 Menschen öffnet, ohne auf die Risiken hinzuweisen, sendet man eine Botschaft an 60 Millionen Menschen, dass die Gefahr nun weg ist“, wurde der Sozialpsychologe letzte Woche in verschiedenen Medien zitiert. Er warf die Regierung von Boris Johnson vor, „unehrlich“ mit den Ergebnissen ihrer Studien zum Infektionsgeschehen bei Großveranstaltungen umzugehen.

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Viele Briten können den lockeren Umgang mit den Fußball-Spielen nicht verstehen. In England durften etwa Hochzeiten bis vor kurzem nur mit maximal 30 Personen stattfinden. Diese Obergrenze gilt zwar nicht mehr, dafür gibt es immer noch andere Einschränkungen wie die Maskenpflicht. Bei vielen Menschen löst das angesichts der Bilder aus Wembley großes Unbehagen aus.

Nun gelten natürlich auch strenge Regeln für die Stadionzuschauer – zumindest in der Theorie. Auch für Geimpfte und Genesene ist der Einlass nur mit einem negativen Antigen-Test gestattet, der nicht älter als 48 Stunden sein darf. Dass die Testpflicht an sich kein Allheilmittel ist, hat aber das Beispiel Schottland gezeigt. Zum Gruppenspiel gegen England reisten zehntausende schottische Fans nach London, obwohl viele keine Karte für das Spiel hatten. Laut Schätzungen der schottischen Gesundheitsbehörden wurden fast 1500 Mitglieder der „Tartan Army“ später positiv getestet.

Die strikten Einreiseregelungen in Großbritannien sollen eigentlich dafür sorgen, dass keine oder sehr wenige Fans aus dem Ausland zu den Spielen reisen. Dänemark, Italien und Spanien stehen im britischen Ampelsystem alle auf der „gelben Liste“. Einreisende müssen also mindestens fünf Tage in Quarantäne bleiben und in den acht Tagen nach der Ankunft drei Tests absolvieren. Dieses komplizierte System ist für die Einreisenden nicht nur teuer und aufwendig, sondern auch nicht unbedingt verlässlich. Viele machen Selbsttests, die sie dann per Post an ein Labor schicken. Manche bekommen kein Ergebnis zurück.

„Die Leute hier sind geimpft, getestet und bereit, da hinüber zu schwimmen“

Die 5000 dänischen Fans, die – Stand jetzt – eine Karte für das Halbfinale am Mittwoch bekommen, sollen alle in Großbritannien leben. Dabei wächst in Kopenhagen der Druck auf die Regierung, sich bei der Uefa und der britischen Regierung für ein größeres Kontingent stark zu machen. „Die Leute hier sind geimpft, getestet und bereit, da hinüber zu schwimmen“, schrieb die Boulevardzeitung „Ekstra Bladet“ am Montag.

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Die Uefa hat sich längst auf die Position zurückgezogen, sie halte sich an die von den Regierungen und Gesundheitsbehörden der jeweiligen Länder erlassenen Bestimmungen im Umgang mit der Pandemie. Der Gesundheitsexperte und SPD-Politiker Karl Lauterbach hatte schon angesichts der 45.000 Fans bei England – Deutschland im Wembley-Stadion kritisiert, „wie eng die Fans stehen, wie oft sie sich umarmen und anschreien“, und prophezeite: „Es haben sich sicherlich Hunderte infiziert und diese infizieren jetzt wiederum Tausende. Die Uefa ist für den Tod von vielen Menschen verantwortlich.“

Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel ließ auf ihrer Abschiedstour in England am Freitag keinen Zweifel daran, dass sie ebenfalls kein Fan von Boris Johnsons Spiel mit dem Risiko ist. „Die britische Regierung wird ihre Entscheidungen treffen“, sagte sie. „Aber ich bin sorgenvoll und skeptisch, ob das gut ist und nicht ein bisschen viel.“

Der Europadirektor der Weltgesundheitsorganisation WHO, Hans Kluge, appellierte in der vergangenen Woche an alle Menschen, die nun Fußballspiele besuchen wollen oder eine Urlaubsreise planen, die Risiken genau abzuwägen und sich zu schützen. „Ja natürlich, wir sind eindeutig besorgt“, sagte er mit Blick auf das Turnier.

Ebenso wie die EM gehört das Tennisturnier in Wimbledon zu mehreren Großveranstaltungen, bei denen in Großbritannien die Wiederzulassung von Zuschauern getestet wird. Ab Dienstag dürfen beim Londoner Rasenklassiker wieder alle Zuschauerplätze auf dem Centre Court und dem Platz Nummer eins mit 14 979 beziehungsweise 12 345 Plätzen genutzt werden. Zum Formel-1-Rennen in Silverstone am 18. Juli sollen 140 000 Zuschauer zugelassen werden.