Ist mein Plattenbau zerstört?
15. Juni 2022
Es gibt sie, diese Tage, an denen nichts mehr geht. Heute ist definitiv so einer – ich wache auf und kann nicht aufstehen. Gut, dass ich nirgendwohin muss und vorerst im Bett bleiben darf – das passiert mir zum ersten Mal seit Wochen. Mein Körper scheint es zu spüren und zeigt deutlich: Ich habe keine Kraft mehr. Gut, dann schalte ich mich kurz auf Standby um.
Ich finde mein Handy beim Bett und lese Nachrichten aus der Ukraine. Was hat sich denn in der Nacht getan? Seit dem 24. Februar konnte ich mir kaum einen Film anschauen, habe es bis jetzt nicht geschafft, ein Buch zu Ende zu lesen, aber vor und nach dem Schlaf muss ich unbedingt Nachrichten lesen. Um sicherzugehen, dass wahr ist, was gerade passiert. Und es ist noch nicht zu Ende. Immer noch nicht. Auch heute nicht.
Neulich hat mich ein Nachbar im Treppenhaus gefragt, wie die Lage in meiner Heimatstadt sei. Wahrscheinlich war ihm meine Antwort viel zu lang, ich habe in seinen Augen gesehen, dass er mir nicht folgen konnte. Er wirkte zwar sehr besorgt, war aber noch nie in Charkiw oder in der Ukraine, es fällt ihm sicherlich schwer, zu visualisieren, was ich ihm erzähle.
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Falls er mich irgendwann wieder fragen sollte, würde ich ihm vielleicht sagen: „Stellen Sie sich vor, bei uns in Berlin wird seit drei Monaten täglich bombardiert. Spandau ist fast komplett zerstört und Köpenick gibt es gar nicht mehr. Das Rote Rathaus ist eine Ruine, der Friedrichstadtpalast ist abgebrannt. Und in den sozialen Medien sehen Sie immer neue Bilder von Menschen, die täglich ums Leben kommen. Menschen, die Sie kennen, gute Freunde. Schlimmer noch, ihre Kinder. Ihre hübschen Kinder, die vor wenigen Jahren die Schule abgeschlossen haben.“
Unter Dutzenden von Nachrichten, die ich in den letzten Tagen bekommen, aber noch nicht gelesen habe, gibt es eine mit frischen Bildern aus Charkiw. Auf einem ist ein zerstörter Plattenbau zu sehen, ich schaue ihn mir lange an. Als ich 13 war, sind meine Eltern, meine Schwester und ich in den Stadtteil Oleksijiwka gezogen, dort lebten wir dann bis 1995.
Das Haus sah genauso aus, ein typischer sowjetischer Plattenbau mit zwei Eingängen und 128 Wohnungen. Konnte das auf dem Foto unser Haus sein? Schwarz-graue Balkone, glaslose Fenster … Wir wohnten genau hier, im 16. Stock, ganz oben rechts, die Wohnung Nr. 128.
Bei meinem Charkiw-Besuch vor zwei Jahren war ich mit einem Fotografen da, um mich vor meinem Haus abbilden zu lassen. Im Rechner finde ich den Ordner mit den Fotos von dem Tag. Ob es das gleiche Gebäude ist, kann ich immer noch nicht sagen.
Plötzlich gibt es Interesse an ukrainischer Popmusik
Vorgestern schrieb mir Eva Mair von Trikont, ich komme erst jetzt dazu, ihre E-Mail zu lesen. 2016 brachte Trikont, die älteste Indie-Plattenfirma Deutschlands, „Borsh Division – Future Sound Of Ukraine“ raus, eine von mir zusammengestellte Kompilation mit zeitgenössischer ukrainischer Musik. Ich war ganz stolz auf diese Zusammenstellung, es war mir eine Ehre, dem europäischen Publikum die neuen ukrainischen Bands vorzustellen. Merkwürdigerweise fanden die deutschen Journalisten den gezeichneten Dreizack auf dem Albumcover bedrohlich und weigerten sich, die CD zu besprechen. Unser Borschtsch rieche zu stark nach Nationalismus, schrieben sie uns privat.
Ihre Meinung dazu hat sich offensichtlich verändert, stelle ich heute fest. Inzwischen werde ich in jedem Interview zu „Borsh Division“ befragt, die Songs daraus werden im deutschen Rundfunk gespielt. Vor drei Monaten kündigte Trikont an, dass alle Erlöse aus dem Verkauf der CD gespendet werden.
Eva schreibt, dass die Kompilation inzwischen 4600 Euro eingespielt habe, eine erfreuliche Nachricht. Sechs Jahre nach seiner Veröffentlichung ist der „Future Sound Of Ukraine“ hier angekommen, während ein Teil der Musiker, die auf dem Album zu hören sind, in der Ukraine gerade kämpfen müssen, wie zum Beispiel Ivan Lenyo von Kozak System oder Alexandr Remez von der Band Ruki v Bryuki. Vor ein paar Tagen habe ich gelesen, er sei verletzt.
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