Ankunft des Kriegs im heiteren Süden
Der Festivalsommer nimmt Fahrt auf, Salzburg und Bayreuth stehen vor der Tür, während in Aix-en-Provence bereits sieben Neuproduktionen innerhalb von nur einer Woche über die Bühne gegangen sind. Die pittoreske Stadt in der Provence bietet einen atmosphärisch einzigartigen Rahmen für dieses vielleicht heiterste aller Sommerfestivals.
Doch auch an der Provence gehen die dramatischen Verwerfungen der letzten Monate nicht spurlos vorüber. Pierre Audi, seit drei Jahren Intendant in Aix musste eine seiner zentralen Produktionen umplanen: „Wir hatten eine Koproduktion mit Moskau für ,Salome’. Die Hälfte des Casts war russisch, weil wir die Produktion im September in Russland spielen wollten. Nur kleine Rollen, aber dennoch. Wir haben sofort reagiert, wir können jetzt keine Koproduktion mit Russland beibehalten.“
Audi hat wenig Verständnis dafür, dass die Salzburger Festspiele an der Mitwirkung von Teodor Currentzis festhalten, dessen Ensembles in Russland von sanktionierten Geldgebern finanziert werden: „Das ist eine sehr merkwürdige Sache! Das kommt wohl daher, dass Österreich sagt: Wir sind neutral. Aber wie kann man neutral sein?“
„Résurrection“ wird zum düsteren Ritual
Audi ist nicht zuletzt dank seiner legendär langen Intendanz an der Amsterdamer Nationaloper in der Branche bestens vernetzt und feuert, – ganz gegen den aktuellen Trend, kleiner zu denken –, ein beispielloses Premieren-Feuerwerk ab. Von Heiterkeit, eingebettet ins provençalische Savoir-vivre kann allerdings keine Rede sein.
Unfreiwillig brisant ist bereits die Auftaktpremiere, obwohl sie, wie der gesamte Spielplan längst geplant war, bevor Putin Europa in einen Krieg stürzte. So aber wirkt es visionär, dass „Résurrection“ zum düsteren Ritual an einem apokalyptischen Ort gerät.
Im bei Marseille gelegenen Vitrolles hat Audi in einer Brachlandschaft einen gigantischen schwarzen Betonkubus – ehemals ein Veranstaltungsort für Handballspiele und Popkonzerte – ertüchtigen lassen. In diesem riesigen Raum inszeniert Romeo Castellucci Mahlers „Auferstehungssymphonie“. Im Graben sitzen Chor und Orchestre de Paris und die Solistinnen Golda Schultz und Marianne Crebassa, es dirigiert Esa-Pekka Salonen, während auf der mit dunkler Erde bedeckten Bühne stumm agiert wird.
Zu Beginn trabt ein Schimmel herein, säuft aus Wasserpfützen, schnuppert und verharrt. Dann kommt dessen Besitzerin und will ihn wegführen, aber auch sie verharrt. Denn der Boden gibt nach, sie erschauert. Alsbald entern Menschen in weißen Schutzanzügen die Bühne, graben und holen langsam nach und nach mehr als 100 Leichen aus der Erde, betten sie sorgsam auf weiße Leichensäcke und transportieren sie schließlich in weißen Transportern mit der Aufschrift UNHCR ab. Wir sind also am Tatort eines mutmaßlichen Kriegsverbrechens und natürlich denkt nun jeder an Butscha und andere Schreckensorte in der Ukraine.
Zu diesem Horror tönt Mahlers Zweite quasi als Soundtrack, wobei gerade die lieblicheren Mittelsätze einen schwer erträglichen Kontrast zur „Handlung“ bilden. Dennoch: Da außer der langsamen Exhumierung immer weiterer Leichen nichts geschieht, stumpft das Sehen ab. Zudem ist die Tonspur verstärkt und in der Balance verzerrt, alles ist auf brachialen Überwältigungseffekt angelegt, was Mahler gewaltig aufbläht, aber auch instrumentalisiert.
Richard Strauss’ „Salome“ zu matt
Die zweite Premiere findet in Aix statt: Im Grand Théâtre de Provence inszeniert Andrea Breth Richard Strauss’ „Salome“, am Pult des Orchestre de Paris steht Ingo Metzmacher. Breth legt die Oper als kleinteiliges, penibel konzipiertes Kammerspiel an, Metzmacher fährt die Lautstärke oftmals extrem herunter, um Elsa Dreisigs lyrischen Sopran in der Titelrolle nicht zu erdrücken. Dreisigs Stimme mangelt es an dramatischer Attacke und Durchschlagskraft, auch an Tiefe. Sie ist eine sehr mädchenhafte Salome, der wenig Irritierendes, gar Dämonisches eignet. Der ambitionierte Abend bleibt insgesamt matt.
Auch die dritte Premiere kann nicht durchweg begeistern. Im Théâtre de l’Archevêché setzt Satochi Miyagi Mozarts „Idomeneo“ open air in Szene, als oratorisches Steh-Theater, am Pult des Ensemble Pygmalion steht der begehrte Raphaël Pichon. Miyagi bezieht sich auf die Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg, aber zu sehen ist nicht viel davon: Die Solisten werden auf hohen Podesten hereingefahren, gedreht und wieder herausgefahren und müssen statisch verharren, es bleibt eine Art von konzertanter Opernaufführung. Zudem tönt es zu leise aus dem Graben, manchmal arg gedehnt und geschmäcklerisch, der Chor singt freilich fabelhaft, aber zu oft aus ungünstigen Positionen. Aus dem toll besetzten Ensemble, das aber wie schaumgebremst wirkt, ragen heraus der fabelhafte Michael Spyres in der Titelrolle und Nicole Chevalier als Gift spritzende Elettra.
Mitreißend: Rossinis „Moïse et Pharaon“
Aufatmen dann bei der vierten Premiere: Rossinis „Moïse et Pharaon“ in der Regie des hoch gehandelten Tobias Kratzer unter der musikalischen Leitung von Michele Mariotti, wieder im Théâtre de l’Archevêché. Bis auf die Figur des Moses, der als Zausel aus einem Sandalenfilm inszeniert ist, verlegt Kratzer das biblische Geschehen in eine hyperrealistisch gezeigte Gegenwart von Flucht und Migration.
Das tut er einfallsreich, mit viel Bewegung auf der Bühne und dynamischer Personen- und Kollektiv-Regie. Die Längen des Werks trägt Michele Mariottis spritziger und stets angriffslustiger Rossini-Stil, der dem Chor und Orchester der Oper Lyon gehörig einheizt. Die großen Tableaus glücken mitreißend, der Cast ist ausgezeichnet, wahrhaft festspielwürdig.
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Als rundweg gelungen, wenn auch wenig überraschend gerät dann die erste Uraufführung dieses Jahrgangs, Pascal Dusapins „Il viaggio, Dante“, wieder koproduziert mit Lyon, geschmackvoll und effektsicher inszeniert von Claus Guth in Etienne Pluss’ edlen Dekors, am Pult steht Kent Nagano. Frédéric Boyers Textbuch bedient sich bei Dante, erzählt aber im Grunde von einer Nahtoderfahrung, Pascal Dusapin hat eine schillernde Tonspur mit expressiven Vokallinien komponiert, klangschön und an keiner Stelle verstörend.
Solide schließlich Monteverdis „Poppea“ in der Regie von Ted Huffman mit der fabelhaften Cappella Mediterranea unter der Leitung von Leonardo Garcia Alarcón. Das routinierte Ensemble ohne Ausreißer nach oben oder unten lässt Huffman quirlig in schrillen Kostümen aufspielen, der Abend ist unterhaltsam auf hohem musikalischem Niveau, aber kein Ereignis.
Ein Ärgernis dagegen die zweite Uraufführung „Woman at point zero“ von Bushra El-Turk: In der Form eines statischen Interviews zweier Frauen wird musikalisch wenig innovativ eine Männerbeschimpfung vorgetragen. So vorhersehbar die Klischees, so ermüdend der Abend.
Fazit: Das Festival in Aix bietet mit großen Namen und exquisiten Besetzungen einen repräsentativen Querschnitt aktuellen Opernschaffens: von Überwältigungsästhetik über Regietheater, historisch-kritische Aufführungspraxis, etablierte Avantgarde bis hin zum belehrenden Agitationstheater. Chapeau!