Die Welt durch Kinderaugen sehen

Es ist sicherlich kein Zufall, dass sich der „kleine“ neunjährige Jesse ausgerechnet für den größten lebenden Organismus der Welt – den Fungus – interessiert und beim Reden über die Koexistenz von Pilzen und Bäumen vor Begeisterung übersprudelt. Schließlich kann man sich das Kino von Mike Mills wie ein riesiges Myzel vorstellen.

In seinen Filmen suchen Menschen unermüdlich die Verbindung zu anderen Menschen und ihren innersten Gefühlen. Ständig sind sie damit beschäftigt, etwas weiterzugeben und zu teilen und zu einer besseren, kompletteren Version ihrer selbst zu reifen. Wobei die entscheidende Figur in diesem Organismus die Mutter ist – mit Vaterfiguren und anderen Surrogaten als Ableger.

Aber auch erzählerisch und ästhetisch geht es um nichts anderes als um Verknüpfung und Synthese. In „Beginners“ (2010), „Jahrhundertfrauen“ (2016) und nun „Come on, Come on“ verwebt der Kalifornier in fließenden Bildläufen die Gegenwart mit vergangenen Lebenssituationen und Ausblicken in die Zukunft. Voiceover und Musik sind weitere Bindemittel, die Figuren, Handlungen und Zeiten zu einem allumfassenden Gewebe zusammenschmelzen. Alles ist jederzeit auf Empfangen und Senden eingestellt und auf eine fast schon totale Weise im Flow.

Radiojournalist Johnny (Joaquin Phoenix) hat ein wenig die „Connection“ verloren. Seit der Trennung von seiner Lebensgefährtin lebt er alleine, mit seiner in Los Angeles lebenden Schwester Viv (Gaby Hoffmann) hat er seit dem Tod der Mutter nicht mehr gesprochen, ihren Sohn Jesse (Woody Norman) kennt er kaum. Sein fehlendes Beziehungsfeld verlagert sich umso stärker in die Arbeit. Für ein Podcast-Projekt reist er mit Aufnahmegerät und Mikrofon durchs Land und befragt Kinder zu ihren Hoffnungen, Ängsten und Perspektiven auf die Erwachsenenwelt.

Ein einsamer Junge mit außergewöhnlichen Neigungen

Als Johnny den Kontakt zur Schwester wieder aufnimmt, trifft er sie in einer schwierigen Situation an: Ihr bipolarer Ex-Mann hat einen schweren Krankheitsschub und steht kurz vor dem Kollaps. Also bietet er sich an, auf Jesse aufzupassen, so könne sie sich um die Unterbringung seinen Vaters in einer Klinik in Oakland kümmern. Unvorbereitet findet sich Johnny in der Rolle der Ersatzmutter wieder.

Jesse ist ein frühreifer, etwas einsamer Junge mit außergewöhnlichen Neigungen, sogar seine eigene Mutter beschreibt ihn als „weird“. Er hört gerne sehr laut Opernmusik, kennt sich mit Pilzen und Verschwörungstheorien aus und hat auch schon einiges an kalifornisch-spirituellem Wissen aufgesaugt. Seine bizarrste Vorliebe aber ist ein Spiel, bei dem er die Rolle eines Waisenjungen annimmt, während Viv eine Mutter spielen muss, die ihre Kinder verloren hat. Das Spiel endet damit, dass er ihren Platz einnimmt. Alles, was Jesse tut, ruft nach psychologischer Deutung.

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Die Annäherung von Erwachsenem und Kind und die damit verbundenen Lernprozesse erzählt Mills ohne große dramatische Bögen. „Come on, Come on“ fließt so dahin, was nicht heißt, dass es keine Reibungen gäbe. Johnny, der seinen Neffen auf Arbeitsreisen nach New York und New Orleans mitnimmt, bringt seine neue Aufgabe eigentlich ständig an Grenzen. Nach einem Streit, weil er Jesse keine singende Zahnbürste kaufen will, läuft ihm der Junge in den Straßen von New York einfach weg.

Mit einer komplizierten Vorgeschichte belastet ist auch die Beziehung zu Viv, die in fragmentarischen Rückblenden in die Gegenwart strömt. Und Jesses zielsichere Fragen – „Warum bist du allein?“, „Fällt es Dir schwer Gefühle zu zeigen?“ – konfrontieren ihn mit seiner eigenen Einsamkeit. Doch jede Verletzung und Beschädigung wird von Mills in so flauschige Watte gepackt, dass vom Schmerz nur ein leichtes, fast schon wieder angenehmes Ziehen übrig bleibt.

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Wenders „Alice in den Städten“ war Vorbild

Anders als so viele Filmemacher:innen von der Ostküste, die sich auf die Darstellung von Dysfunktionalität und neurotische Selbstbezüglichkeit spezialisiert haben, investiert Mills viel Energie in Verständigung, Kommunikation und gegenseitige Berührung. In „Come on, Come on“ dreht sich alles um das Gespräch, um das Fragen, Antworten und vor allem Zuhören: angefangen von den Interviews über die Telefonate zwischen Johnny und seiner Schwester, in denen über Vergangenes gesprochen wird wie über die alltägliche Wahnsinnsaufgabe, ein Kind groß zu ziehen.

(In elf Berliner Kinos, auch OmU; OV: Rollberg)

Besonders herausfordernd aber sind die Unterhaltungen mit Jesse, der extrem sensible Antennen für Worthülsen hat und eine besonnen klingende Antwort schon auch mal augenrollend mit einem „Blahblahblah“ kontert. Das Reden ist immer auch Therapie. Wenn das Kind endlich im Bett ist, sitzt Johnny völlig erschöpft vor seinem Mikrofon und spricht sein Tagebuch ein. Die allabendliche Praxis ist seine Version einer talking cure.

„Come on, Come on“ ist zurückgenommener als das ausufernde Zeitporträt „Jahrhundertfrauen“ über Mills’ Mutter. Robbie Ryans Schwarzweißbilder geben dem Film etwas Konzentriertes, Wesentliches und wirken gleichzeitig ein wenig entrückt, als Referenz nennt Mills unter anderem Wim Wenders Roadmovie „Alice in den Städten“. Bei aller Reduktion ist natürlich immer noch ausreichend Platz: etwa für die Musik von Mozart und Debussy und die schon im Vorgängerfilm erprobte Literaturliste. Titel aus der psychoanalytischen Wissenschaft und Kinderbuchliteratur – „Mothers: An Essay on Love and Cruelty“ und „Star Child“ – werden eingeblendet, während Auszüge aus den Texten im Off zu hören sind.

Das Podcast-Projekt rahmt den Spielfilm außerdem mit einer dokumentarischen Ebene – die Interviews haben real stattgefunden – und erweitert die intime Beziehungsstudie um größere Fragen zu intergenerationellen Verhältnissen – und noch weiter: zu Kosmos und Welt. Mills’ Framing auf jenen Teil der nachfolgenden Generation, die alle Ungerechtigkeiten und Katastrophen im Blick hat und dazu noch den eigenen Gefühlshaushalt vorbildhaft führt, zeigt aber auch die Grenzen seiner Offenheit.