Die Kunst der Leerstelle
Sieben Hochformate einer Serie hängen im ersten Stock im Haus am Waldsee. Sieben ziemlich unterschiedliche Bilder, was deshalb eigenartig ist, weil Thomas Florschuetz an diesem kalten Morgen den Aufnahmewinkel nicht veränderte. Die Reihe „Ohne Titel (K52)“ entstand bei Sonnenaufgang, in jenem Zeitabschnitt, in dem die Wintersonne das Atelierfenster des Künstlers in der Berliner Kollwitzstraße 52 zu erwärmen begann.
Die gegenüberliegende Fassade ist mal besser, mal kaum zu erkennen, weil die Kamera durch ein entweder vereistes oder beschlagenes Fenster blickt. Eine der Fotografien zeigt eine Tropfenstruktur und einen Hell-Dunkel-Verlauf, erinnert an abstrakte Malerei.
Was hat Florschuetz hier überhaupt fotografiert? In der Soloausstellung „Überlagerungen“ weckt der 1957 in Zwickau geborene Fotograf Zweifel an der Beschaffenheit und Bedeutung der Bildgegenstände – und fordert zugleich die Wahrnehmung der Betrachtenden heraus. „Der Inhalt meiner Arbeit ist der Blick auf den Blick“, hat der Künstler vor über 20 Jahren erklärt, und im Haus am Waldsee zeigt sich jetzt, dass die Beschreibung nichts an Aktualität eingebüßt hat.
Man könnte auch von Dringlichkeit sprechen, denn die Bereitschaft, sich auf Bilder einzulassen, nimmt ab im Zeitalter des rapiden Daten- und Bilderflusses. Florschuetz bietet das Gegenprogramm: Seine Bilder und Werkgruppen sperren sich gegen Konsumierbarkeit und Weiterscrollen. Es sind nur wenige Menschenbilder eingestreut in die Präsentation, der Fokus liegt auf die vergangenen zehn Schaffensjahren. Vorwiegend sind Architekturen und Interieurs zu sehen.
Allein in der Serie „Individuals“ kommen Menschen vor. Allerdings lässt Florschuetz Köpfe, Arme und Beine weg. Er zeigt nur Rückenansichten im dichten Gewühl indischer Städte, die Individualität nur erahnen lassen. Die Quasi-Porträts ohne Gesichter lassen viele Fragen offen, erzeugen Spannung, Neugier, Fantasieräume. Florschuetz’ Kunst ist im Kern eine des Weglassens.
Die Ansichten etablieren eine autarke Realität
Florschuetz verweigert auch Blicke auf gesamte Baukörper und umfassende Räume, ob er nun in Berlin, Rio de Janeiro oder Ahmedabad fotografiert. Er betreibt keine klassische Architekturfotografie, die räumliche Verhältnisse klärt. Die Ansichten lösen sich von den konkreten Orten und Kontexten, etablieren eine autarke Realität – ein Dasein, das nur als Bild existiert. Aber was heißt „nur“: Bilder sind Welten bei Thomas Florschuetz.
In der jüngsten Werkreihe, die er im Sítio Roberto Burle Marx bei Rio de Janeiro aufnahm, thematisiert der Fotograf die Koexistenz von Flora und Architektur – und verbindet so zwei seiner zentralen Genres miteinander. Der Ausstellungstitel „Überlagerungen“ bezieht sich aber weder allein auf Überwucherungen noch bloß auf die Kompositionsweise des Fotografen, der mit Vorliebe Diagonalen sich kreuzen und Flächen spannungsvoll aneinanderstoßen lässt. In der Fotografie kommen bestimmte äußere Bedingungen – der Ort, das Licht – mit persönlichen Haltungen und Stimmungen zusammen: Innen und Außen spielen ineinander.
Ein Foto entreißt der Realität einen kurzen Moment. Indem Florschuetz diese mediale Begrenztheit mit seinen kompositorischen Mitteln noch steigert, öffnet er zugleich einen weiten Resonanzraum. Im Herbst 2016 hielt Florschuetz die letzten Stunden eines bedeutenden Museumsstandorts fest, des Ethnologischen Museums in Berlin-Dahlem.
Einige Bilder der Serie „Elephant’s Breath“ zeigen die Räume, Vitrinen und Exponate in trügerischer Intaktheit, während sich an anderer Stelle die Räumung bereits bemerkbar macht: Plastikfolien und Absperrgitter rücken ins Bildfeld. Hinter dem Schutzglas eines Schauraums sind nur noch gelbe Podeste und Wandelemente zu sehen, sowie ein Haufen nutzloser Haken. Das Museum, das sich für den Umzug ins Humboldt-Forum rüstet, wird zum Ort der Melancholie.
Der Künstler bleibt neutral
Florschuetz geht noch einen zeitlichen Schritt zurück, indem er eine Innenaufnahme des Palastes der Republik von 2006 präsentiert. Der Rückbau des 2008 endgültig abgerissenen Palastes ist auf der Fotografie so weit fortgeschritten, dass die Stahlträger freigelegt sind. Alte Markierungen aus der Bauzeit in den 1970ern werden wieder sichtbar. Ein Gegenwarts-Ausschnitt, der in die Vergangenheit wie in die Zukunft weist – so wie die Pfeile nach links und rechts, die Arbeiter vor Jahrzehnten auf die Deckenträger gesprüht haben.
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Den umstrittenen Schlossneubau hat Florschuetz nicht fotografiert. Eine vielsagende Lücke. Als Künstler bleibt er neutral seinen Sujets gegenüber. Ohnehin ist ja fraglich, ob Fotografien überhaupt kommentieren können. Florschuetz jedenfalls zeigt nur Entwicklungen und Wandlungen. Gerade diese Haltung ist das politische Moment seiner Fotografie. Der „private“ Thomas Florschuetz aber bekennt: „Dass der Palast der Republik abgerissen wurde, ist kein Drama. Der Schlossneubau ist das Drama.“
(Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30, bis 28.8.; Di-So 11-18 Uhr)
Getrübt wird die Eröffnung lediglich von der Tatsache, dass Katja Blomberg die von Anna Himmelsbach und Dagmar Schmengler kuratierte Ausstellung zwar noch initiiert hatte, aber nicht mehr einrichten konnte. Die Kunsthistorikerin war 16 Jahre lang Direktorin des Hauses am Waldsee, ganz am Anfang, im Jahr 2005, hatte es bereits eine Florschuetz-Kooperation mit der Soloschau „Blick ins Freie“ gegeben. Florschuetz II wäre Blombergs Abschied gewesen; warum sie das Haus im September 2021, acht Monate vor dem Ende ihres Vertrags verlassen musste, bleibt rätselhaft.
Immerhin die Nachfolge ist geklärt: Anna Gritz, bisher Kuratorin am KW Institute for Contemporary Art, wird einen neuen Kurs einschlagen, wie man das von einer neuen Direktorin erwartet. Gritz verspricht ein Programm verstärkt internationaler Prägung. Um neuere Kunststrategien wird es am Haus ebenfalls gehen, damit fängt die Kunsthistorikerin auch gleich an. Mitte September gibt Gritz ihren Einstand mit der in Los Angeles geborenen, heute in Berlin lebenden Performance-Künstlerin Leila Hekmat, die das Haus am Waldsee mitsamt dem Garten zu einem klösterlichen Sanatorium für Frauen umwidmen will: Die Schau „Female Remedy“ wird laut Gritz satirisch Fragen des gesellschaftlichen Normendrucks, der Gesundheit und Wellness aufs Korn nehmen. Doch bevor die Installation inklusive Live-Performance über die Waldsee-Bühne geht, bleibt im Sommer viel Zeit und Reflexionsraum für Thomas Florschuetz’ großartige Bilder des Wandels.