So müssen europäische Museen indigene Kunst präsentieren

Die erste große Sonderausstellung im Humboldt Forum war dem Elfenbein gewidmet und damit der Sklavenwirtschaft in Afrika. Im Grunde hätte es um die Kolonialgeschichte im Ganzen gehen können – und die Geschichte der Sammlungen des Ethnologischen Museums. Die Chance wurde nicht wirklich genutzt, und wenn jetzt hinter den Schlossmauern „Songlines“ eröffnet, eine Übernahme aus dem National Museum of Australia in Canberra, dann stellt sich mit der Neugier auch leichte Verwunderung ein.

Mit Australien haben die Brüder Humboldt so gut wie nichts zu tun, und der Kontinent ist anders als die Südsee in den Berliner Sammlungen wenig vertreten. Australien und Deutschland feiern in diesem Jahr das 70-jährige Bestehen ihrer diplomatischen Beziehungen: also ein Kulturaustausch unter Freunden?

Das Humboldt Forum – im September eröffnen weitere Sammlungsräume – sieht sich ja wohl als lernende Institution. Und wie sich sogleich zeigt: Von den Australiern ist gut lernen. Die Wanderausstellung markiert einen Paradigmenwechsel. Sie ist von Vertretern indigener Communities konzipiert und enthält „Lehren von entscheidender Bedeutung für Bewegungen wie Black Lives Matter, MeToo und andere Umwelt- und Klimabewegungen“, sagt Margo Neale, Senior Indigenous Curator im Museum von Canberra, der Hauptstadt Australiens. Da lässt sich einiges für andere Welten übernehmen.

„Songlines“ war schon in der britischen Hafenstadt Plymouth zu sehen, von dort lief James Cook, der „Entdecker“ Australiens, einst aus, und sie geht nächstes Jahr zum Musée du quai Branly. In Paris gab es 2013 eine große Schau der Künstlergemeinschaft aus Papunya, die Anfang der siebziger Jahre in der Wüste Zentralaustraliens entstand.

Die „Sieben Schwestern“ sind eine Gründungsmythos

Die „Songlines“ (mit dem deutschen Untertitel „Sieben Schwestern erschaffen Australien“) laufen jedoch anders. Sie folgen inneren Notwendigkeiten. Die Geschichten der Aborigines drohen abhandenzukommen. Junge Menschen verlieren den Kontakt zu einer Überlieferung, die über 65 000 Jahre zurückreicht. So alt ist keine noch aktive Kultur. Und so begann vor zehn Jahren eine lange Reise über viele Tausend Kilometer, mit Künstlerinnen und Museumsleuten, eine Karawane auf den Spuren ewiger Narrative.

Bei den „Sieben Schwestern“ handelt es sich um einen zentralen Mythos, um das europäische Wort zu gebrauchen, eine fundamentale Erzählung, sie nennen es in Australien auch „Gesetz“, „Tjukurrpa Kungkarrankalpa“ in der Originalsprache. Die sieben Frauen durchqueren die Wüsten Australiens, ungeheure Räume, auf der Flucht vor dem männlichen Verfolger und Quälgeist Wati Nyiru. Er ist in der Lage, Formen der Natur anzunehmen, sich in einen Fels, einen Baum, eine Frucht zu verwandeln, in Tiere – das erinnert an den ewig geilen Gott Zeus, mal Schwan, mal Stier. „Songlines“ sind das Land, die Kunst, Vergangenheit und Zukunft in einem.

Landschaft und Malerei. „Yarrkalpa (Hunting Ground)“ vom Martumili Art Studio ist ebenfalls in Berlin zu sehen.Foto: Gabrielle Sullivan, Martumili Artists / VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Der erste Eindruck in der Ausstellung, die zum Verweilen wie zum Umherwandern einlädt, ist Überwältigung. 300 Objekte, zumeist großformatige Gemälde: Drei mal fünf Meter misst „Yarrkalpa (Hunting Ground)“, 2013 entstanden in kollektiver Arbeit von acht Frauen der Martumili Artists. Sandflächen, Wasserlöcher, Brandstellen, ein gewaltiges Areal ist dargestellt, eine Topografie des Country und der Menschen. Ein Video zeigt die Arbeit am Werk an Ort und Stelle draußen, das Singen, das Einarbeiten der Muster und der Farben.

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Vor dreißig Jahren präsentierte die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf die erste seriöse Ausstellung von Aboriginal Art hierzulande. Auf uns wirkt die Malerei abstrakt, erinnert an die Pointillisten. Aber die Kreise, die Muster, die Linien, all die Formen – gelegentlich taucht eine menschliche oder animalische Gestalt darin auf – besitzen eine konkrete Bedeutung, bezeichnen eine Begebenheit aus dem Dasein der „Sieben Schwestern“, berichten von abenteuerlichen Aktionen des Verfolgers, der sich immer nur für einen Moment abschütteln lässt.

Einführung in ein Wissenssystem

Vielstimmig klingt der Ausstellungsraum. Man wird von lebensgroßen Gastgebern auf Videoscreens empfangen, und in einem Kuppelzelt sind Wandmalereien projiziert. „Songlines“ arbeitet mit reichlich Multimedia, das entspricht vielleicht dem alten Gedanken, dass diese Wege abgeschritten, gemalt, erzählt werden.

Es ist völlig in Ordnung, die Ästhetik der Malerei zu genießen, auch wenn Margo Neale im sehr guten Katalog schreibt, dass die eigentliche Idee der Songlines dem westlichen Denken vollkommen fremd sei. Selbst indigene Wörter genügten nicht, dieses „Dreaming-Gesetz“ zu erfassen, „das eine Struktur für die Lebensführung vorgibt, aber auch als Wissenssystem fungiert“. Offensichtlich aber auch in Kunstobjekten, wie hier in der Keramik materialisiert.

(„Songlines: Sieben Schwestern erschaffen Australien“. Humboldt Forum, bis 30. Oktober, mit umfangreichem Rahmenprogramm. Der Katalog ist im Hirmer Verlag erschienen und kostet 34, 90 Euro)

Bruce Chatwin hat einmal mit „Traumpfade“ (1987) großes Interesse an Australien und seinen First People geweckt. Aber der erfolgreiche Roman – kein Sachbuch – beförderte auch viele Missverständnisse und Klischees. Die Songlines, die der nomadisierende britische Schriftsteller suchte, werden von „Custodians“ bewahrt und in Zeremonien vermittelt. So versteht sich auch diese Ausstellung, die unter der Aufsicht digitaler Community-Ältester steht, nicht nur am Eingang. Man fühlt sich gut geführt und behütet, und das ist auch nötig.

Denn die Stories der „Seven Sisters“ stecken voller Schrecknisse und Gefahren. Wie fast alle Schöpfungsgeschichten und Großmythen enthalten sie das Element männlicher Gewalt. Selten kommt das so klar zum Ausdruck wie in diesen Wüstenerzählungen, deren Überleben keine Selbstverständlichkeit mehr ist.