„Die Musikindustrie hat sich durch TikTok verändert“
Mia Morgan ist spät dran. Sie habe den Fahrtweg unterschätzt, sagt ihre Managerin. Die Künstlerin sei ja noch nicht so lange in Berlin. „Ich komme gerade aus Moabit, ich weiß selbst nicht, wo das liegt“, erklärt Mia Morgan scherzhaft, als sie im Büro ihrer Agentur in Kreuzberg eintrifft. Die Pop-Musikerin wirkt trotz Verspätung entspannt, trägt ein schwarzes Kleid mit Rüschenkragen, das den Blick auf zahlreiche Tattoos freigibt.
Vor sechs Monaten sei sie nach Berlin gezogen, erzählt Morgan, die ursprünglich aus Kassel kommt. Derzeit hangelt sie sich noch von Zwischenmiete zu Zwischenmiete. Anfang Mai ist es soweit: Morgan braucht ein neues Zimmer. Ein Kraftakt, denn die 28-Jährige ist in diesen Tagen vor allem mit der Veröffentlichung ihres Debütalbums „Fleisch“ beschäftigt.
Vor vier Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Song „Waveboy“. Mit gewitzten Lyrics und einem luftigen Gitarren-Refrain wurde die Lo-Fi-Nummer zu einer kleinen Indiepop-Hymne. Mia Morgan war schon damals im Netz sehr umtriebig. Ihre Jugend verbrachte sie auf Tumblr, später schrieb sie von Stefanie Sargnagel inspirierte Facebook-Postings, veröffentlichte Prosatexte. Auf einer Lesung lernte sie Max Gruber alias Drangsal kennen, eine Begegnung, die ausschlaggebend für ihre musikalische Karriere werden sollte. Über Drangsal knüpfte Morgan weitere Kontakte in die Berliner Musikszene, unter anderem zu dem Musiker – und gefragten Produzenten – Max Rieger (Die Nerven, All Diese Gewalt). Gemeinsam nahmen sie die Debüt-EP „Gruftpop“ auf, die 2019 erschien und deutschen Pop mit Indie und New Wave vermischte.
Mit der Produktion von „Fleisch“ haben Rieger und Morgan vor drei Jahren im „dunkelsten, verrauchtesten und stickigsten Raum“ des ARTraktiv-Musikerhauses in Marzahn angefangen, später wechselten sie in Riegers Studio im Funkhaus. „Es hat unglaublich viel Spaß gemacht, weil es sich einfach ergeben hat“, sagt sie über die Zusammenarbeit. Im Studio habe es keinen einzigen stressigen Tag gegeben.
Mental-Health-Podcast für Musikerinnen
Mittlerweile sind Drangsal und Rieger ihre Freunde geworden, sie alle bewegen sich im selben musikalischen Dunstkreis. Mia Morgan spielte schon im Vorprogramm von K.I.Z. und Casper, nahm mit dem Berliner Musiker Search Yiu einen Mental-Health-Podcast für den Musikblog Diffus auf. Morgan fühlt sich wohl in ihrem Umfeld.
„Ich habe mich früher oft gefragt, warum Musiker:innen nur mit anderen Musiker:innen abhängen. Das passiert irgendwann organisch, weil man viele gemeinsame Themen hat“, erklärt sie. Die Nähe zu ihren Freund:innen und der Musikszene war ausschlaggebend für ihren Umzug nach Berlin. Davor pendelte Morgan zwischen Max Riegers Proberaum und ihrem WG-Zimmer in Kassel, zwischen Nebenjobs und Popstartraum. Leben kann sie noch nicht von der Musik. „Ich arbeite in einem Klamottenladen und sitze an einer Supermarktkasse. Ich habe immer weniger Zeit dafür. Mucke ist ein Vollzeitjob, der noch nichts einbringt“. Schuld daran ist die Pandemie und das Wegbrechen von Konzerten, der Haupteinnahmequelle von Musiker:innen.
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Mia Morgan geht offen mit ihren prekären Verhältnissen um, sieht das Offenlegen ihrer Nebenjobs nicht als Tabuthema an. Es stört sie eher, dass das Musikerinnen-Dasein oftmals als privilegiert dargestellt wird: „Viele Leute haben ein verqueres Bild davon, wie es in der Musikbranche ist. Es dauert, bis man gut von der Musik leben kann, es sei denn, man hat einen TikTok-Hype“, sagt sie.
Doch ein solcher Hype ergibt sich nicht von selbst. Morgan ist auf der Plattform aktiv, postet Clips, in denen sie ihre Skincare-Routine erklärt oder sich über Berliner Cafés auslässt. Ihren Follower:innen gewährt sie auch Einblick in die Arbeit in Studio und Proberaum, teilt Ausschnitte aus ihren Musikvideos. Dabei sieht sie die Rolle des chinesischen Netzwerks in der Musikindustrie kritisch: „Seit einer Weile bin ich sehr böse auf TikTok. Man kann da nicht sein Album promoten, du kannst 20 Sekunden aus deinem Song auf doppelter Geschwindigkeit und gepitcht oder verlangsamt unter ein Meme legen und hoffen, dass es genug Leute sehen. Die Musikindustrie hat sich komplett verändert durch TikTok.“
Über das Gefühl des Nicht-Dazugehörens
Auch auf Instagram ist Morgan aktiv, postet freizügige Selfies, im vergangenen Jahr teilte sie einen langen Post über ihre Essstörung. Das Thema des digitalen Selbst zieht sich auch durch ihr Album „Fleisch“. „Viele Songs sind vor der Pandemie entstanden, aus einem Gefühl des Nicht-Dazugehörens, dem Gefühl, lieber online stattfinden zu wollen als im echten Leben. Das hat damit zu tun, dass ich nicht da gewohnt hab, wo die meisten meiner Freund:innen wohnen.“
Ein Thema, das viele ihrer Zuhörerinnen nicht zuletzt durch die Pandemie nachempfinden könnten. Das Album ist eine Erzählung von Morgans spätem Coming-of-Age, verpackt in Breitwand-Pop. Der klingt zuckersüß und oft nah am Schlager, kommt mit knalligen Gitarrenriffs aber auch trotzig daher. Zu Beginn der Single „Teenager“ singt sie begleitet von einer melancholischen Akustikgitarre: „Wär’ ich als Teenager cooler gewesen/ Wär’ ich vor dir jetzt nicht halb so verlegen“, um die Selbstbeschimpfung im schnelleren fun-punkigen Refrain ad absurdum zu führen, wozu auch dazwischengeschobene Lalalas beitragen.
(„Fleisch“ erscheint bei Eklat Tonträger. Konzert: 22.5. im Cassiopeia)
Dabei ist „Fleisch“ durchaus als feministisches Pop-Manifest angelegt, auf dem Mia Morgan ihre Selbstermächtigung feiert. Sie verarbeitet in den Songs ihre eigenen Erfahrungen des Erwachsenwerdens, aber auch Erzählungen ihrer Freundinnen. Sie singt mit ihrem mal sanften, mal von Selbstbewusstsein strotzenden Sprechgesang über Zweifel, Sexualität und Selbstverwirklichung. Viele ihrer Themen haben einen feministischem Unterbau. „Gott ist eine Frau und sie ist viele“ heißt es im Song „Segen“.
Das Stück „Schönere Frauen“ stellt ein stereotypes Schönheitsideal zugleich aus und infrage: „Könnt ich Jugend konservieren/ Und mir spritzen/ Würd ich vierundzwanzig sieben/ An der Nadel sitzen.“ Die Auseinandersetzung mit dem Körper durchzieht das gesamte Album, dessen Titel nicht umsonst „Fleisch“ lautet. Im Video von „Schönere Frauen“, bei dem Mia Morgan selbst Regie führte, zelebriert sie zusammen mit einer Gruppe junger Menschen einen vielfältigen Schönheitsbegriff. Und verschmiert am Ende ihr eigenes Make-Up zu einer Grusel-Fratze. Schönsein – einfach eine Zumutung.