Jeden Tag derselbe Teig

„Eier, Butter, Zucker, Salz“ – das sind erklärtermaßen die Zutaten, aus denen der jüngste Abend am Deutschen Theater Berlin besteht. Immer wieder wird die Rezeptur heraufbeschworen in Noah Haidles Stück „Birthday Candles“, das Anna Bergmann jetzt auf der Kammerbühne zur deutschsprachigen Erstaufführung gebracht hat.

Dessen Plot besteht darin, dass eine Frau – gespielt von der Ausnahmeakteurin Corinna Harfouch – Kuchen bäckt. Jedes Jahr knetet sie denselben Teig, verrührt immer wieder die gleichen „schlichten Zutaten“. Vom 17. bis zum 107. Geburtstag, insgesamt zwei Theaterstunden lang.

Ernestine ist exemplarisch gemeint

Ein ganzes (Frauen-)Leben soll da an uns vorüberziehen, einerseits irgendwie exemplarisch als Produkt der Zeit und der gesellschaftlichen Umstände, in die es hineingeboren wurde. Andererseits aber auch gerade individuell genug, damit im Publikum der Empathie-Motor anspringen kann.

Also steht Corinna Harfouch zu Beginn als 17-jährige Ernestine auf Jo Schramms Bühne, einem drehbaren Guckkasten, der sich später in besonders unruhigen Lebenslagen gern mal auf den Kopf stellt oder wild hin und her schaukelt, so dass seine Bewohnerinnen und Bewohner heillos von einer Ecke in die andere rutschen ob der einwirkenden Schicksalsmächte, von denen Haidle wirklich reichlich auffährt: Falscher Mann, richtiger Mann, Scheidung, Hochzeit, Mutterglück, Kindstod – alles drin im symboldräuenden Butterkuchenteig.

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Das aber weiß Ernestine in der Ausgangsszene natürlich noch nicht, sondern will – blutige Teenagerin, die sie ist – „aufbegehren gegen das Universum“ und „Krieg führen gegen das Alltägliche“. Zur Untermalung ihres Lebenshungers springt sie gelegentlich hibbelig vn einem Bein aufs andere vor der Küchenarbeitsplatte, vor der man sie – Cut – schon kurz darauf eher bodenständig stehen sieht.

Und zwar in Gesellschaft eines Mannes (Alexander Khuon), den man, mit Verlaub, dann doch eher alltäglich nennen muss und mit dem sie über die Klavierlernfortschritte des gemeinsamen Sohnes Billy (Enno Trebs) spricht. Auch dies eine Sache, die sich – Überraschung – vergleichsweise im durchschnittlichen Bereich bewegt.

Mag sein, dass die Zutaten schlicht sind

Mag ja sein, dass die Butterkuchenzutaten schlicht daherkommen, heißt es in einem Leitsatz, der hier gefühlt jedes Jahr von sämtlichen Mitgliedern der stetig wachsenden Familie gesprochen wird. „Aber“, so geht es weiter, „wenn du dich umdrehst und weit genug blickst, siehst du Atome, die seit der Schöpfung da sind“.

Es ist durchaus beruhigend, dass es im angeheirateten Teil von Ernestines Familie Personen gibt, die zu vorgerückter Stunde gestehen, bei diesem Blick ins Weite ebenfalls nicht so wirklich fündig zu werden.

[Deutsches Theater Berlin, nächste Vorstellungen am7., 8., 15. und 28. Mai]

Denn die Geburtstagsdramaturgie ist natürlich ein Trick, um die Figuren letztlich gerade nicht ausloten zu müssen, das Leben nur in Ausschlägen zu zeigen, nach oben wie nach unten: Ernestine wird fünfzig, Talsohle, der Gatte geht fremd. Cut.

Ernestine feiert den sechzigsten, Peak, sie hat den Butterkuchen zum Beruf und sich selbstständig gemacht. Cut. Ernestine wird achtzig plus und heiratet, nochmal Peak, endlich den Richtigen. Cut. Ernestine knetet den Teig zum neunzigsten Mal, Tiefstpunkt, der Richtige hat Krebs. Cut.

Sie macht den Butterkuchen zum Beruf

Es ist eher ein Fotoalbum statt eines Lebens, das der US-amerikanische Dramatiker hier aufblättert, eine Abfolge von Polaroids. Falls sich jemand an die nicht mehr erinnert, wird ihm in „Birthday Candles“ wirklich umfassend auf die Sprünge geholfen – und genau so inszeniert Anna Bergmann den Abend auch. Da wird hier eine Pan-Am-Maschine aufs Szenario projiziert, da ein Retro-Song geschmettert und dort zum Tänzchen angesetzt.

Corinna Harfouch, die nicht zum Kitsch neigt, schaut man gern dabei zu, wie sie sich so durch die Jahrzehnte knetet. Und das Ensemble legt sich schwungvoll hinein in die Pointen, die Haidle serviert. Sei es Bernd Stempel als lang verschmähter Hausfreund Kenneth mit (selbst-)ironischem Witz, Franziska Machens in allen tragikomisch-überspannten Rollen und Kathleen Morgeneyer in den Zu-zart-für-diese-Welt-Rollen, sowie Alexander Khuon als homophober Ehemann, der sich von seinem Sohn fragen lassen muss, wie er eigentlich damit leben könne, keinen „eigenen Impuls“ in sich zu haben. Und der darauf trocken erwidert: „Irgendwie krieg’ ich’s hin.“

Tja, und die Quintessenz? Sagen wir mal so: Doch nichts geworden mit der Herausforderung des Universums? Immerhin: Das große Familien-Glück hat am Ende ja geklappt.