Einer der Großen am Deutschen Theater
Bei den Dreharbeiten zu „Der letzte Zeuge“ fragte Ulrich Mühe einmal, woran man eigentlich erkennt, dass man alt wird. Sein Chef Dieter Mann dachte nach Art älterer Leute etwas nach und sagte dann: Wenn du deine Schuhe zubinden willst und dabei auf die abwegige Idee kommst, dich hinzusetzen, dann sei das eindeutig das Alter.
Er mache das schon länger. Und dabei sieht man ihn noch immer als Truffaldino in Molieres „Der Diener zweier Herren“ um und über die Tische springen, in allen Posen aberwitziger Servilität auf einmal.
Dieter Mann hat sein Leben am Deutschen Theater verbracht, fast ein halbes Jahrhundert, als Schauspieler und Intendant. Nebenbei war er allgegenwärtig im DDR-Fernsehen und Kino. Dem Regisseur Gerhard Klein hatte es einst genügt, ihn von hinten zu sehen, wie er aus der Tür ging, um ihn für seine erste Filmrolle zu besetzen. Das war „Berlin um die Ecke“, 1965 sofort verboten. Aber die Hauptsache blieb immer das Theater.
Eine Wette mit Klaus Piontek
Nach meiner letzten Vorstellung laufe ich in Pantoffeln zum S-Bahnhof Friedrichstraße, hat er gesagt. Was man im eigenen Wohnzimmer so trägt, und das ganze Areal um das Deutsche Theater gehörte dazu. Das machst du nicht!, sagte Kollege Klaus Piontek. Sie hatten eine Wette offen.
Die letzte Vorstellung war „Eines langen Tages Reise in die Nacht“. Völlig unspektakulär, ganz anders, als in der DDR einer wie er verabschiedet worden wäre. Sind heute alle überall nur noch auf der Durchreise? Aber dann hielt Sven Lehmann auf offener Bühne eine kurze raue Rede, in unverwechselbarer Sven-Lehmann-Art. Der Abtretende war sehr berührt.
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Er ist nachher nicht in Hausschuhen zum S-Bahnhof Friedrichstraße gegangen, es regnete, und er musste auch keine Wette mehr gewinnen. Piontek war tot wie Ulrich Mühe, Sven Lehmann folgte ihnen bald darauf. Nun ist auch Dieter Mann dorthin gegangen, wo sie inzwischen fast alle sind, die das Deutsche Theater in seiner größten Zeit zu verantworten hatten, in den 1960er, 70er, 80er Jahren, als sein Resonanzraum so unvergleichlich war.
Bei Dieter Mann reichten minimale Gesten
Sie ließen sich ohnehin nie als Einzelne denken, Mann nicht ohne Böwe, Esche, Grashof, Düren, Baur und die anderen. Wenn es kein Anachronismus wäre, dürfte man sagen, nach dem Vorbild des Deutschen Theaters wurde einst der Kommunismus entworfen: Der große Einzelne als absolutes Kollektivwesen.
Die kompromisslosesten Solitäre als Ensemblefiguren, wobei die Virtuosität des Nächsten die unabdingbare Voraussetzung der eigenen bildet. Natürlich beherrschte auch Dieter Mann auf seine ureigene Weise, was hier Standard war: Zugleich bis in den äußersten Winkel von Herz und Hirn in einer Rolle stecken und sie zugleich mit geradezu kosmischer Fremdheit von außen anschauen. Unmöglich zu sagen, wie man das macht, aber sie konnten es.
Dieter Mann hatte es dabei vielleicht am leichtesten und am schwersten zugleich. Bei diesem Schauspieler geriet bereits die minimalste Geste, die kleinste Positionsänderung der Pupille zur Aussage, er konnte nichts dagegen tun. Und dazu diese schmalen, wie nicht vorhandenen Lippen, zwischen denen er ganze Passagen, nein Stücke zermalmen konnte!
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Die Worte manchmal kaum hörbar, aber immer schnell und scharf. Heute hätte man ihn wohl vor allem als verschlagenen Charakter besetzt, so wie er in Worms bei den Nibelungen-Festspielen Hagen von Tronje war. Aber auch Goethes Clavigo oder Ulrich Plenzdorfs Edgar Wibeau in „Die neuen Leiden des jungen Werther“ schienen unterm Mannschen Kälteschock eher zu wachsen. Und wie komisch er sein konnte.
Dieter Mann wurde erst Mephisto, dann Intendant
Dieter Mann umgab eine natürliche Aura der Distanz, und vielleicht war darum, alles, was sie durchbrach, umso erschütternder. Unvergessenen sein DT-Solo mit Thomas Manns „Fülle des Wohllauts“, die beiden Manns waren füreinander geschaffen. Nur ihre Herkunft konnte verschiedener nicht sein.
Seine Mutter, die einfache Berliner Arbeiterfrau, hat ihren Sohn zeitlebens nicht auf der Bühne gesehen. Sie hielt sich für zu gering, die Schwelle eines Theaters zu überschreiten.
Ohne die DDR wäre Dieter Mann wohl nie Dieter Mann geworden. Das Anfangsversprechen lautete: Ihr, die ihr mit dem Gesicht nach unten lebt, schaut auf! Und der junge Dreher mit acht Klassen in Akkordarbeit hielt inne. 1984, nachdem das große „Faust II“-Projekt am Deutschen Theater gescheitert war – Regie: Friedo Solter, Faust: Alexander Lang, Mephisto: Dieter Mann –, wurde er Intendant. Unter seiner Leitung entstanden die großen Produktionen der letzten Jahre der DDR und der Wendezeit, allen voran Heiner Müllers „Hamlet/ Hamletmaschine“.
Parkinson war der Schatten über seinen letzten Jahren. Einst hatte er seine erste Filmrolle für die Art bekommen, wie man ihn von hinten aus der Tür gehen sah. So sehen wir ihn jetzt: von hinten aus der Tür gehen. Dieter Mann wurde 80 Jahre alt.