Zehn Jahre Berlin Circus Festival: Schwerter, Sex, Sensationen
Wenn Akrobaten sich durch die Lüfte schwingen, braucht es eigentlich keine Worte. In dem Stück „Masacrade“ der französischen Compagnie Marcel et ses drôles de femmes, das am Eröffnungswochenende des Berlin Circus gezeigt wird, werden nun die physischen Höhenflüge mit gedanklichen Stunts kombiniert.
Und so begleitet eine Stimme aus dem Off die Acts des Trios mit tiefschürfenden Reflexionen über Leben und Tod. Besonders bei Marcel Vidal Castells lassen sich suizidale Tendenzen erkennen. Der macht anfangs zwar seinen Job als Fänger bei den Trapez-Nummern. Doch dann stürzt er ab und bleibt reglos auf dem weich gepolsterten Untergrund liegen. Kurze Zeit später springt er wieder auf und gibt Entwarnung: „Nicht jetzt!“
Bei der anatomischen Exkursion führen die Artistinnen als Gehirn oder Niere ihre Saltos aus, um sich etwas später in einen Tanz der Begriffe zu werfen. Amüsant ist es, wenn die Absurdität einen Disput mit der Realität anzettelt. Sieben selbstmörderische Akte werden präsentiert. Am Ende dieser zirzensischen Tragikomödie steht die Erkenntnis: Akrobaten haben mehrere Leben.
Das Berlin Circus Festival begeht in diesem Jahr sein 10-jähriges Jubiläum. Josa Kölb, der das Festival 2015 zusammen mit Johannes Hilliger gegründet hat, freut sich nicht nur darüber, dass das Festival inzwischen ein größeres Publikum anzieht. „Wir haben das Festival anfangs gegründet, um dem zeitgenössischen Zirkus eine Plattform zu geben, für mehr Unterstützung und für mehr Qualität, mehr Kunst einzustehen. Und wir können sehen, dass sich in zehn Jahren viel getan hat und dass das Festival einen großen Anteil daran hat.“
Älterwerden als Artistin
Der zeitgenössische Zirkus ist in Deutschland angekommen. Und das Berlin Circus Festival konnte dank der Förderung durch das Land Berlin weiter wachsen. Zur Jubiläums-Edition wurden auch befreundete Compagnien eingeladen wie die Berliner Gruppe Still Hungry, die mit ihrer gefeierten Kreation „Raven“ schon 2018 beim Festival gastierte. Auch „Show Pony“, eine Produktion des Chamäleon Theaters, ist eine herausragende Performance.
Lena Ries, Anke van Engelshoven und Romy Seibt reflektieren in dem Stück über das Älterwerden als Artistin – mal mit schonungsloser Ehrlichkeit, mal mit erfrischender Selbstironie. Das fabelhafte Trio tritt heraus aus der Illusion und wirft einen kritischen Blick auf die Entertainment-Industrie, in der Artistinnen spätestens mit 40 ausgemustert werden. Es hinterfragt die ungeschriebenen Gesetze der Zirkuskunst. Die erste Regel lautet: Alles muss mühelos wirken.
Die drei demonstrieren ihr Können – Lena als Kontorsionistin, Anke an den Strapaten, Romy am Seil –, im Vordergrund aber stehen die autobiografischen Erzählungen. Die drei Frauen haben den Mut, die Maske fallen zu fallen. Auf der Bühne stehen hier starke Persönlichkeiten – und die werden vom Publikum begeistert gefeiert. Am Ende bleibt hier die Hoffnung: Es gibt ein Leben nach dem Zirkus.
Zum ersten Mal wurde mit „Carnivale Royale“ auch eine queere Show präsentiert. Ein Moderator mit riesigen Gummibrüsten, der wie eine Comicfigur aussieht, kündigte die Artisten an. Die schrillen Acts setzen auf Sex, Schwerter und Sensationen. Bei der Pole-Tänzerin, die ein Feuerwerk unter ihren Hacken zündet, flippt das Publikum völlig aus. Der Höhepunkt war der Auftritt der brasilianischen trans Artistin Diana Salles. Sie zeigte nicht nur ihr atemberaubendes Acts am Vertikaltuch, sondern kreierte auch poetische Bilder.
Die international preisgekrönte Diana Salles wird vom 16. bis 18. August auch ihr Solo „Delusional – I killed a an“ präsentieren, in dem sie Luftakrobatik mit Tanz und Gesang kombiniert. Erinnerungen an ihre Transition durchziehen das Stück, in dem es um Zweifel, Selbstfindung und Wiedergeburt geht.