Das Verhängnis nimmt seinen Lauf
Extrem tiefe Bläsertöne bilden den Auftakt von „Sym-Phonie mmxx“ in der Staatsoper. Das Dröhnen geht in mächtig anschwellende und wieder abebbende Klänge über. Vor einer kupferfarbenen Rückwand schieben sich die Tänzer:innen in verlangsamten Bewegungen seitwärts. Es ist ein Strom aus Leibern, der sich vom linken Rand auf die Bühne ergießt. Aber schon bald denkt man an den Treck Schutzsuchender aus der Ukraine, der nicht abreißt.
„Sym-Phonie MMXX“ sollte eigentlich die Eröffnungsproduktion von Sasha Waltz als Ko-Intendantin des Staatsballett Berlin werden. Bereits 2016 hatte die Choreografin den österreichischen Komponisten Georg Friedrich Haas mit einer Ballettmusik beauftragt. Wegen des ersten Lockdowns musste die Premiere im April 2020 abgesagt werden.
Zwei Jahre später erlebte das Werk nun seine Uraufführung. Es mussten einige Hürden genommen werden, um die Produktion doch noch zu realisieren. Die Konstellation ist nun eine andere: Waltz hatte Ende Januar 2020 ihren Rücktritt als Ko-Intendantin des Staatsballett erklärt. Deswegen kommt das Werk nun als Koproduktion vom Staatsballett und Sasha Waltz & Guests heraus. Die Choreografin hat das Werk ausschließlich mit eigenen Performer:innen sowie Tänzer:innen der freien Szenen einstudiert.
Von den Staatsballett-Mitgliedern, mit denen sie ursprünglich geprobt hatte, steht keiner auf Bühne. Der Grund seien dispositionelle Schwierigkeiten und personelle Veränderungen beim Staatsballett, hieß es. Die Balletttänzer:innen hätten nicht für einen längeren Probenzeitraum zur Verfügung gestanden; um das noch unvollendete Stück fertigzustellen. Und die zeitgenössischen Tänzer:innen hätten ersetzt werden müssen, Das Gros von ihnen steht nicht mehr unter Vertrag.
Das Stück arbeitet mit großen kollektiven Szenen, mit bezwingenden, furiosen Gruppenbilder. Den gewaltigen Klängen, die die Staatskapelle unter der Leitung von Ilan Volkov erzeugt, müssen die Performer:innen etwas entgegensetzen. Sie schlagen sich gut und überzeugen nicht nur in Duos oder Trios, sondern auch in den Massenszenen mit ihren Verkettungen oder Staffelungen. Pulk oder Prozession: Kollektive bilden sich heraus und werden wieder auseinandergerissen.
Ihrem ursprünglichen Konzept ist Sasha Waltz treu geblieben, auch wenn sie bis zur Premiere noch weiter an der Choreografie gearbeitet hat. Erstaunlich ist, wie aktuell das Stück wirkt. Immer wieder drängen sich Assoziationen zum Krieg in der Ukraine auf. Beispielsweise in einer Szene, die in der Stille getanzt wird. Die 21 Tänzer:innen stehen dicht aneinander gedrängt in einer Reihe.
Zwei Männer zwängen sich durch diese Wand. Sie gehen auf einzelne Frauen und Männer zu, umfassen die erschlaffenden Leiber und legen sie behutsam auf dem Boden ab. Einer nach dem anderen wird so symbolisch begraben. Am Ende steht nur noch Zaratiana Randrianantenaina aufrecht. Auch wenn die Szene abstrakt ist, muss man doch an Massengräber denken.
Zu den aufwühlenden Klängen von Haas zeigt Waltz zuvor eine aufgeputschte Menge. Mit herausgeschleuderten Bewegungen und stampfenden Schritten rückt der Pulk vor, weicht zurück. Die schwarzen Stirnbänder lassen an Guerillakämpfer denken. Ein Frau mit hochgereckten Arm führt den Aufstand an. Bald bilden sich zwei verfeindete Lager heraus.
Waltz thematisiert die Spaltung der Gesellschaft, die seit einigen Jahren zu beobachten ist und durch die Corona-Pandemie noch verstärkt hat. Während sich die Tänzer anfangs im offenen Raum bewegen, teilt plötzlich eine Wand die Bühne (Bühnenbild: Pia Maier Schriever). Zwischen den beiden Seiten ist keine Verständigung mehr möglich. Zudem verschiebt sich die Grenze – die Tänzer:innen auf der rechten Seite werden immer weiter in die Enge getrieben.
Dieses Gefühl teilen momentan viele Menschen: Wir steuern sehenden Auges in eine Katastrophe. Das Schlussbild von „Sym-Phonie MMXX“ bringt dies auf den Punkt. Die kupferfarbene Wand hängt nun über den Köpfen der Performer:innen – unaufhaltsam senkt sie sich herab. Um nicht zerquetscht zu werden, machen die Tänzer:inne sich zuerst ganz klein und fliehen dann vor der drohenden Gefahr. Nur einige wenige halten bis zuletzt die Stellung. Die Bühne ist danach in Dunkelheit gehüllt, die Musiker spielen weiter. Aber das Verhängnis nimmt seinen Lauf.
Dieses neue Werk ist trotz einiger Längen ein düsteres, aufrüttelndes. Es führt deutlich vor Augen, dass Sasha Waltz stark von der Tradition des deutschen Ausdruckstanzes geprägt ist. Die Choreografin beweist mit diesem aufgeladenen Abend viel Mut zum Pathos. Sie packt uns bei unseren aktuellen Ängsten und schafft dadurch Raum für Trauer.
Wieder am 18. 3., 20 Uhr; 19. 3., 18 Uhr.