WM-Viertelfinale Holland gegen Argentinien: Ein Duell mit Geschichte

Louis van Gaal befindet sich auf einer Mission. Seine Mission heißt: Weltmeister werden. „Wir haben vielleicht nicht die größten Chancen von den acht Mannschaften, die im Viertelfinale stehen“, sagt der Bondscoach der niederländischen Fußball-Nationalmannschaft. „Aber wir haben eine Chance.“

Für van Gaal, inzwischen 71 Jahre alt, ist es mutmaßlich die letzte, nachdem er 2014 im Halbfinale der WM in Brasilien an Argentinien gescheitert ist. „Ich denk nicht gern daran zurück“, sagt er über das Spiel, das im Elfmeterschießen für die Holländer verloren ging. „Wir haben noch eine Rechnung zu begleichen.“

Im Viertelfinale an diesem Freitag (20 Uhr) treffen beide Länder zum sechsten Mal bei einer WM aufeinander, und fast immer bei ihren Duellen wurde es so legendär, dass die niederländische Zeitung „Trouw“ nicht ohne Grund behauptet: „Niederlande gegen Argentinien ist ein Klassiker der WM-Geschichte.“ Wir blicken zurück.


1974: Zweite Finalrunde

Am 26. Juni 1974 wird die Welt Zeuge eines fußballhistorischen Moments. Zum Auftakt der zweiten Finalrunde bei der WM in der Bundesrepublik treffen im Parkstadion von Gelsenkirchen Holland und Argentinien aufeinander.

55.000 Zuschauer sehen an diesem Abend in der vielleicht reinsten Form all das, was den totalen Fußball der niederländischen Elftal auszeichnet. Gelegentlich ist dieses Spiel sogar als die eigentliche Geburtsstunde des „voetbal totaal“ bezeichnet worden.

Die Holländer fahren „vierspurig in Richtung Tor ohne Tempolimit“, schreibt der frühere Fußballprofi Jürgen Werner in der „Zeit“ über die Offensive der Holländer. Und die „FAZ“ erklärt die Besonderheit in deren Spiel wie folgt: „Sobald der Gegner am Ball ist, engen die Männer um Cruyff sofort den Spielraum ein, und ein feinmaschiges Netz spannt sich über die Mitte des Feldes.“

Typische Bewegung.: Johan Cruyff hat Argentiniens Torwart Daniel Alberto Carnevali verladen und erzielt sein erstes WM-Tor.
Typische Bewegung.: Johan Cruyff hat Argentiniens Torwart Daniel Alberto Carnevali verladen und erzielt sein erstes WM-Tor.
© imago/WEREK

Alle stürmen, alle verteidigen. Das ist neu und wirkt für die Sehgewohnheiten der damaligen Zeit: sehr exotisch.

4:0 gewinnt die Elftal in Gelsenkirchen. Und damit sind die Südamerikaner sogar noch gut bedient. „Die Argentinier liefen fast wie aufgescheuchte Hasen durch die Gegend und fanden selten ihre Gegenspieler“, schreibt der Tagesspiegel. Johan Cruyff, Oranjes Superstar, erzielt seine ersten beiden WM-Tore, dazu treffen Ruud Krol und Johnny Rep.

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Spiele haben die Niederlande und Argentinien bisher bei Weltmeisterschaften bestritten.

Die Holländer haben noch viele weitere Chancen, die Argentinier hingegen im gesamten Spiel keine einzige. „Selbst die herrlichen Auftritte von Ajax in den vergangenen Jahren halten dem Vergleich mit der wirbelnden Oranje-Show kaum stand“, schreibt das niederländische Fachblatt „Voetbal International“ nach dem 4:0. „Das sagt einiges.“


1978: Finale

Was in Deutschland seit dem WM-Finale von 2014 „Mach ihn! Er macht ihn!“ ist, das ist in den Niederlanden: „Rensenbrink. Tegen de paal.“ Rensenbrink. Gegen den Pfosten. Den Ausspruch von Fernsehkommentator Theo Reitsma kennt in Holland vermutlich jeder, der sich für Fußball interessiert. Er steht sinnbildlich für das große Drama des niederländischen Fußballs: Knapp vorbei ist auch daneben.

Kein Land stand so oft im WM-Finale, ohne ein einziges Mal Weltmeister geworden zu sein, wie die Niederlande. Und so knapp wie am 25. Juni 1978 im Estadio Monumental von Buenos Aires sind sie nie zuvor und nie danach am Titel vorbeigeschrammt. „Die Holländer sind Pechvögel“, schreibt „Die Welt“ nach dem Endspiel gegen Argentinien. „Sie haben jetzt das zweite WM-Finale hintereinander verloren, obwohl sie auch diesmal wieder die bessere Mannschaft waren.“

Knapp vorbei: Rob Rensenbrink (r.) scheitert an Argentiniens Torhüter Torwart Ubaldo Fillol.
Knapp vorbei: Rob Rensenbrink (r.) scheitert an Argentiniens Torhüter Torwart Ubaldo Fillol.
© Imago/Frinke

Wie schon vier Jahre zuvor in München treffen die Holländer erneut auf den Gastgeber. Die Argentinier gehen durch Mario Kempes, die große Entdeckung des Turniers, in Führung. Doch zehn Minuten vor dem Ende der regulären Spielzeit gelingt der Elftal durch Dick Nanninga der Ausgleich. Und in der Nachspielzeit kommt es fast noch besser. Fast. Denn aus spitzem Winkel trifft Rob Rensenbrink eben nur den Pfosten.

Ein Tor zu diesem Zeitpunkt, das wäre mit ziemlicher Sicherheit die Entscheidung zugunsten der von Ernst Happel trainierten Holländer gewesen. Doch so bleibt es beim 1:1, es gibt Verlängerung, und am Ende sichert sich Argentinien durch das sechste Turniertor von Mario Kempes und einen weiteren Treffer von Daniel Bertoni zum 3:1 erstmals den WM-Titel. „Dieser Pfosten. Immer wieder dieser Pfosten. Das wird bis zu meinem Tod so bleiben“, hat Rob Rensenbrink gesagt, der Anfang 2020 mit 72 Jahren verstorben ist.


1998: Viertelfinale

So wie Theo Reitsma 1978, so ist auch Jack van Gelder 20 Jahre später als Radioreporter ein Moment für die Ewigkeit gelungen. Im Viertelfinale der WM in Frankreich steht es kurz vor Schluss zwischen Holland und Argentinien 1:1, sowohl nach Toren als auch nach Platzverweisen.

Nicht zu stoppen: Dennis Bergkamp (l.) erzielte 1998 gegen Argentinien eines der spektakulärsten Tore der WM-Geschichte.
Nicht zu stoppen: Dennis Bergkamp (l.) erzielte 1998 gegen Argentinien eines der spektakulärsten Tore der WM-Geschichte.
© Imago/Pro Shots

„Ich habe auf einmal so ein Gefühl, dass wir ins Halbfinale kommen“, sagt van Gelder, als Frank de Boer den Ball in der 89. Minute unbedrängt durchs Niemandsland führt. Es ist erst einmal der letzte Satz, den er in halbwegs normaler Lautstärke von sich geben wird.

Weil de Boer mit seinem weiten Pass in den argentinischen Strafraum einen der legendärsten niederländischen WM-Momente einleitet. 50 Meter fliegt der Ball, dann holt ihn Dennis Bergkamp mit dem rechten Fuß aus der Luft. Er spitzelt ihn seinem Bewacher Roberto Ayala durch die Beine, lässt ihn dadurch ins Leere laufen, schlenzt den Ball mit dem Außenrist hoch oben links in den Winkel – und Jack van Gelder liefert den passenden Soundtrack dazu. „Dennis Bergkamp!“, ruft er mit krächzender Stimme. Einmal. Zweimal. Dreimal. Viermal. Fünfmal. Dazwischen japst er nach Luft wie ein Ertrinkender.

Bergkamp hat in seiner Karriere einige schöne Tore erzielt, aber dieses gegen Argentinien hat er selbst als sein schönstes überhaupt bezeichnet – weil es nicht nur schön war, sondern auch immens wichtig. „Ich bin ein Liebhaber des schönen Fußballs“, hat der holländische Stürmer einmal gesagt, „aber er muss auch erfolgreich sein.“ Das war er an diesem warmen Nachmittag im Sommer 1998 in Marseille.


2006: Gruppenphase

Für Liebhaber des schönen Fußballs ist die Begegnung zwischen Holland und Argentinien bei der WM in Deutschland hingegen eine einzige Enttäuschung. Das liegt vor allem daran, dass beide Teams in der sogenannten Todesgruppe nach zwei Siegen gegen die Elfenbeinküste und Serbien-Montenegro bereits für die nächste Runde qualifiziert sind. „Das vermeintliche Highlight der WM-Vorrunde war de facto nur noch ein besseres Vorbereitungsspiel für das Achtelfinale geworden“, schreibt der Tagesspiegel.

Premiere: Im Gruppenspiel gegen die Niederlande feierte Lionel Messi sein WM-Startelfdebüt. Sonst hatte die Partie wenig zu bieten.
Premiere: Im Gruppenspiel gegen die Niederlande feierte Lionel Messi sein WM-Startelfdebüt. Sonst hatte die Partie wenig zu bieten.
© Imago/Bernd Müller

Beide Trainer nutzen die Möglichkeit, ihren Stammkräften ein wenig Schonung angedeihen zu lassen und stattdessen auch ihre Ersatzleute mal von Anfang an spielen zu lassen. Dadurch wird das dröge 0:0 in Frankfurt in der Nachbetrachtung doch noch zu einem fußballhistorischen Spiel. Auf Seiten der Argentinier steht ein gewisser Lionel Messi, 19 Jahre alt, zum ersten (und in Deutschland auch zum einzigen) Mal bei einem WM-Spiel in der Startelf.


2014: Halbfinale

Am liebsten hätte er es wieder getan, aber er kann es nicht. Louis van Gaal, Bondscoach damals wie heute, hatte im Viertelfinale der WM in Brasilien die gesamte Fußballwelt überrascht, als er unmittelbar vor dem Elfmeterschießen seinen Torhüter Jasper Cillessen durch Tim Krul ersetzte. Einen ausgewiesenen Penaltykiller, wie sich an diesem Abend in Salvador de Bahia herausstellen sollte. Krul pariert zwei Elfmeter Costa Ricas, Holland kommt eine Runde weiter.

Held und Pechvogel: Argentiniens Torhüter Sergio Romero hielt zwei Elfmeter, unter anderem den von Ron Vlaar.
Held und Pechvogel: Argentiniens Torhüter Sergio Romero hielt zwei Elfmeter, unter anderem den von Ron Vlaar.
© Imago/Eibner

Das Halbfinale gegen Argentinien vier Tage später erweist sich dann als ziemlich dröge Veranstaltung – und das nicht nur im direkten Vergleich mit dem Duell zwischen Gastgeber Brasilien und Deutschland am Abend zuvor.

„Es war ein Alptraum“ schreibt die „Sun“ über das Spiel, das im Zeichen der totalen Defensive steht. Nach 120 Minuten steht es immer noch 0:0, wieder müssen die Holländer ins Elfmeterschießen.

Ich denk nicht gern daran zurück.

Louis van Gaal über das Halbfinale gegen Argentinien bei der WM 2014

Doch diesmal hat van Gaal keine Wechseloption für Krul mehr frei. Zu Beginn der Verlängerung hat er Klaas Jan Huntelaar gebracht, um auf Sieg zu spielen. „Es ist nicht gut ausgegangen, obwohl wir natürlich nicht wissen, ob Krul die Elfmeter pariert hätte“, sagt van Gaal acht Jahre später im Interview mit dem Fernsehsender NOS.

Cillessen, Oranjes Nummer eins bei der WM, kann keinen Schuss der vier Schüsse der Argentinier abwehren, während bei den Holländern Ron Vlaar und Wesley Sneijder an Torhüter Sergio Romero scheitern.

Vlaar ist an diesem Abend der tragische Held. Nachdem er gegen Costa Rica verletzt gefehlt hatte, kehrt er gegen Argentinien in die Fünferkette zurück und macht seinem Spitznamen „Ron Beton“ als Bewacher von Lionel Messi alle Ehre. „Die beste Leistung eines Innenverteidigers bisher bei der WM“, sagt später der frühere englische Nationalspieler Rio Ferdinand.

Aber es gibt ja noch ein Nachspiel vom Elfmeterpunkt. Van Gaal hat für einen solchen Fall alles im Voraus geregelt. Die Schützen stehen fest, auch ihre Reihenfolge. Dummerweise aber steht Robin van Persie, der als erster Schütze vorgesehen ist, nicht mehr auf dem Feld. Van Gaal fragt zwei Spieler, ob sie den Anfang übernehmen. Sie wollen nicht. Und so entscheidet er sich schließlich für den Mann, der bis dahin der beste des Abends gewesen ist. Für Ron Vlaar.

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