Matthias Ginter ist ohne Erfahrung gut
Die Tage und Wochen bei einem großen Fußballturnier sind höchst sensible Zeiten. Ein falsches Wort reicht, um diplomatische Verwicklungen auszulösen. Matthias Ginter, Verteidiger der deutschen Fußball-Nationalmannschaft und nicht gerade für schlagzeilenträchtige Zuspitzungen bekannt, hat das in der vergangenen Woche erfahren. Er hatte einfach nur nein gesagt.
Ginter war gefragt worden, ob sich denn jemand von seinem Arbeitgeber, dem Bundesligisten Borussia Mönchengladbach, nach der Auftaktniederlage gegen Frankreich bei ihm gemeldet habe. „Nein“, antwortete Ginter. Mehr nicht. Aber das genügte schon, um daraus eine aufziehende Eiszeit zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu konstruieren, Ginters Abgang aus Mönchengladbach als quasi unausweichlich zu erachten.
Auszuschließen ist das nicht. Ginters Vertrag läuft in einem Jahr aus. Das ist in der Regel der Zeitpunkt, an dem sich Klub und Spieler vor die klare Alternative gestellt sehen: entweder verlängern oder verkaufen. Wie die Entscheidung bei Ginter ausfallen wird, ist weiterhin offen. Die Gladbacher wissen sehr wohl, was sie an ihrem Innenverteidiger haben, der in der vergangenen Saison in allen 46 Pflichtspielen von der ersten bis zur letzten Minute auf dem Platz gestanden hat. Aber dass auch andere Klubs ihn auf dem Schirm haben, ist ebenfalls kein Geheimnis. Zuletzt wurde sogar der FC Barcelona als möglicher Interessent genannt.
Es sagt einiges über die Entwicklung des inzwischen 27 Jahre alten Ginter, dass eine solche Meldung nicht mehr automatisch schallendes Gelächter hervorruft. Ginter und Barcelona? Okay. Warum nicht?
Matthias Ginter zum FC Barcelona? Warum nicht?
In der Nationalmannschaft hat der Verteidiger lange der Er-ist-auch-dabei-Fraktion angehört. Selbst zu Beginn der EM war das noch so: Würde sich in der vermeintlichen Stammelf überhaupt ein Platz für ihn finden lassen? Alle Welt hat vor dem Turnier von Mats Hummels geredet, dem Rückkehrer, der die Defensivprobleme des deutschen Teams quasi alleine beheben sollte. Oder von Antonio Rüdiger, der gerade mit dem FC Chelsea die Champions League gewonnen hat und mit seinen starken Leistungen einen nicht unerheblichen Teil dazu beigetragen hat. Der beste Innenverteidiger bei den bisherigen beiden Gruppenspielen der Deutschen aber war: Matthias Ginter.
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In beiden Gruppenspielen verzeichnete der Gladbacher die besten Zweikampfwerte; selbst die Prominenz auf der Gegenseite – Kylian Mbappé und Karim Benzema bei den Franzosen, Cristiano Ronaldo bei den Portugiesen – haben Ginter nicht nachhaltig beeindrucken können.
Joachim Löw, der Bundestrainer, hat sogar schon vor der Europameisterschaft ein Loblied auf den oft Unterschätzten gesungen, das viel lieblicher klang, als man es erwartet hätte. „Er ist unglaublich verlässlich. Matthias Ginter erfüllt die Aufgaben, die man ihm stellt. Er kann es sehr schnell abspeichern und verstehen“, sagte Löw. Ginter sei „die Zuverlässigkeit in Person“. Und was er taktisch leiste, seine Art, Zweikämpfe zu bestreiten, das sei einfach gut. „Da hat er uns über viele Jahre noch nicht enttäuscht.“
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Ginter ist in der Tat schon eine Ewigkeit dabei. Sein Debüt für die Nationalmannschaft feierte er bereits im März 2014, als er beim 1:0 gegen Chile kurz vor Schluss für Mesut Özil eingewechselt wurde. Vier Monate später wurde er in Brasilien Weltmeister, als jüngster Spieler im deutschen Kader. 2016 gewann er, ebenfalls in Brasilien, die olympische Silbermedaille und im Jahr darauf den Confed-Cup.
Mit seiner Turniererfahrung ist Ginter gewissermaßen ein alter Hase – und auf dem allerhöchsten internationalen Niveau trotzdem fast noch ein Anfänger. Denn sowohl bei der WM 2014 als auch vier Jahre später in Russland stand er keine einzige Sekunde auf dem Platz. Und für die EM 2016 wiederum war er von Löw gar nicht erst nominiert worden. Ginter hat vor allem bei den sportlich nachrangigen Turnieren, bei den Olympischen Spielen 2016 und beim Confed-Cup 2017, eine wichtige Rolle gespielt.
Inzwischen aber wird er auch bei den großen Jungs geschätzt. Ginter ist einer der Gewinner des halbherzigen Neuaufbaus, den Löw nach der verpatzten WM in Russland in Angriff genommen hat. Er ist zwar von Position zu Position verschoben worden, aber das Entscheidende war: Ginter hat eigentlich immer gespielt. Er sei keiner, der groß auffalle, hat der Bundestrainer gesagt, „aber er ist wichtig in einem Gefüge, weil das Gleichgewicht überall auf dem Platz stimmen muss“.
In Löws neuem System spielt Ginter jetzt rechts hinten in der Dreierreihe
In der Nationalmannschaft hat Ginter verschiedene Rollen eingenommen, in der Vierer- und der Dreierkette, innen wie außen. In Löws neuem System spielt er jetzt rechts hinten in der Dreierreihe. Die Position, gewissermaßen an der Schnittstelle all seiner bisherigen Positionen, gefällt ihm, weil sich in ihr die verschiedenen Erfahrungen seiner Karriere bündeln und sie für ihn sowohl defensive als auch offensive Aufgaben bereithält.
Das gilt noch mehr, nachdem der Bundestrainer vor dem Spiel gegen Portugal eine Neujustierung seines Systems vorgenommen hat. Dadurch dass der nominelle Außenverteidiger Joshua Kimmich jetzt de facto wie ein Außenstürmer spielt, kann auch Ginter seine Rolle offensiver interpretieren. Nicht von ungefähr war er es, der gegen die Portugiesen mit einer Flanke aus dem Halbfeld schon nach fünf Minuten das vermeintliche 1:0 von Robin Gosens vorbereitete, das dann wegen Abseits nicht zählte. Auch seine typischen Diagonalpässe von der rechten Seite auf den linken Außenverteidiger hinter die letzte Kette sind jetzt ein wichtiges Element in Löws offensivem Plan.
Vier Jahre ist es her, dass Ginter für 17 Millionen Euro von Borussia Dortmund zu Borussia Mönchengladbach gewechselt ist. Nie zuvor hatte der Klub mehr Geld für einen Spieler ausgegeben. Gladbachs Sportdirektor Max Eberl hat damals auf das allgemeine Preisniveau verwiesen und zum Vergleich den Spieler genannt, der im Finale des Confed-Cups an der Seite von Matthias Ginter verteidigt hatte. Ein Jahr zuvor war er für 41 Millionen Euro zum FC Arsenal gewechselt. Sein Name: Shkodran Mustafi.