Mit Minimalismus auf dem Weg zur Turniermannschaft
Den Begriff „Turnierfußball“ benutzte Raheem Sterling dreimal innerhalb weniger Minuten. Nach einem furiosen Start hatte England den 1:0-Sieg gegen Tschechien ohne große Probleme verwaltet – und das Publikum in der zweiten Hälfte dabei fast zum Einnicken gebracht. Doch Siegtorschütze Sterling gab sich zufrieden. Im Turnierfußball sei der Gruppensieg ohnehin das Wichtigste. Und dafür hatte der Stürmer von Manchester City mit seinen Toren gegen Kroatien und Tschechien fast im Alleingang gesorgt.
Mehr als Sterlings zwei Treffer brauchten die minimalistischen Engländer am Ende nicht, um mit sieben Punkten in die nächste Runde zu kommen. Nach dem 0:0 im zweiten Spiel gegen Schottland gab es zwar Kritik, aber am Dienstag war keiner so richtig unzufrieden mit dem zweiten 1:0-Sieg in drei Spielen. Schließlich hatte England zum ersten Mal seit dem WM-Sieg 1966 die erste Gruppenphase eines Turniers ohne Gegentor überstanden. „Wenn du keine Tore kassierst, dann gewinnst du Fußballspiele“, sagte Sterling.
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Dabei galt die Defensive vor dem Turnier als das große Problem der Engländer und der mit Künstlern vollgestopfte Angriff als ihre größte Stärke. In der Praxis war es bisher genau umgekehrt. Die Techniker wie Sterling sahen mit ihren humorlos effizienten Leistungen eher wie das Italien oder Deutschland von gestern aus statt wie nervöse, neurotische Engländer.
Könnte es wirklich so sein? Ist England – ausgerechnet England! – plötzlich eine Turniermannschaft? „Wenn Deutschland so gespielt hätte wie wir gerade, würden wir jetzt davon schwärmen, wie ruhig und stabil sie wirken. Nur, weil es England ist, wollen wir immer ein bisschen mehr“, sagte der frühere Nationalspieler Gary Neville im ITV-Studio nach dem Spiel am Dienstag lachend. Er selbst habe kein Problem damit, wenn England mit mehr Effizienz als Explosivität spielt. „Ich habe immer gesagt: Europameister werden wir nicht, indem wir Frankreich oder Deutschland deklassieren. Denn dafür haben wir einfach nicht die Spieler.“
Da hat der frühere Kapitän von Manchester United allerdings nur bedingt recht. Einen Kylian Mbappé haben die Engländer zwar nicht, aber es gibt bei dieser EM kaum einen Trainer, der in der Offensive über so viele Optionen verfügt wie Gareth Southgate. Neben der Erfahrung von Sterling und Kapitän Harry Kane hat er die Kreativität und den Spielwitz von Phil Foden, Jack Grealish oder Jadon Sancho, der trotz seiner brillanten Saison für Borussia Dortmund bisher nur zu einem Kurzeinsatz kam.
Das 19-jährige Arsenal-Talent Buyako Saka rückte hingegen am Dienstag in die Startelf – und war für die überforderten Tschechen vor allem in der ersten Halbzeit kaum zu kontrollieren. Dabei war seine wichtigste Aktion in den Highlight- Videos am Mittwoch gar nicht zu sehen. In der zwölften Minute bekam Saka den Ball in der eigenen Hälfte, tanzte pietätlos am tschechischen Starspieler Tomas Soucek vorbei und sprintete mit dem Ball am Fuß in die Tiefe. Damit setzte er einem Angriff in Gang, die mit dem Kopfballtor von Sterling endete.
Was ist mit Jadon Sancho und Marcus Rashford?
Dass sowohl Saka als auch Grealish bei ihrem jeweils ersten Startelfeinsatz auftrumpften, bereitet Southgate vor dem Achtelfinale Kopfschmerzen. Der in den ersten zwei Spielen gesetzte Mason Mount wird wohl nicht zur Verfügung stehen. Sowohl er als auch Ben Chilwell mussten sich zuletzt isolieren, weil sie Kontakt mit dem positiv getesteten Schotten Billy Gilmour hatten. Doch auch ohne das Chelsea-Duo hat Southgate die Qual der Wahl. Lässt er Grealish und Saka erneut in der zweiten Angriffslinie hinter Kane auflaufen, oder setzt er doch wieder auf Foden? Und was ist mit Sancho und Marcus Rashford, die bisher nur als Einwechselspieler zum Einsatz kamen?
Womöglich denkt sich der England-Trainer für das Achtelfinale etwas ganz Neues aus. Denn wie Sterling am Dienstag betonte, brauche man im Turnierfußball „verschiedene Spieler für verschiedene Situationen“. Und das Spiel nächste Woche wird ohne Frage eine ganz andere Herausforderung sein.
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Der größte Vorteil des Gruppensieges ist für die Three Lions, dass sie ein weiteres Spiel vor heimischer Kulisse haben und in London bleiben dürfen. Der Nachteil ist, dass sie im Wembley-Stadion gegen den Zweitplatzierten der Gruppe F spielen müssen. Ging es in der Vorrunde noch darum, mit möglichst viel Ruhe und ohne die übliche Panik durchzukommen, muss man im Achtelfinale mindestens einen Gang höher schalten. Denn gegen Deutschland, Frankreich oder Portugal wird man das Spiel nicht einfach verwalten können.
Angst haben die Engländer vor dem hochklassigen Duell in der nächsten Runde trotzdem nicht. Vielmehr wollen sie zeigen, dass sie gegen die besten Mannschaften Europas genauso effizient und ruhig sein können wie zuletzt in der Gruppenphase. „Für diese Herausforderung sind wir auch hier. Irgendwann muss man sich so oder so mit den Besten messen“, sagte Sterling. Auch das sei Turnierfußball. Und England will schließlich eine Turniermannschaft sein.