Zeit und Zimmer

Es ist ein paar Jahre her, dass Karl-Markus Gauß in Berlin den Streit von zwei Frauen schlichten wollte, die mit ihren Körpern aufeinander losgingen und sich schlugen. In der Nähe der Museumsinsel passierte das, die Sprache der beiden hielt Gauß für bulgarisch, und tatsächlich gelang es dem österreichischen Autor, für Frieden zu sorgen.

Nachdem er auf eine Bitte von einer der Frauen um ein paar Euro seine Brieftasche gezückt hatte und wieder seines Weges gegangen war, fiel ihm an der Kasse des Neuen Museums auf, dass seine gesamte Barschaft fehlte, knapp vierhundert Euro. „Dass ausgerechnet mich zwei Romnija bestahlen, war eine unentschuldbare Schandtat, mich, der ich seit zwanzig Jahren das Unrecht anprangerte, dass den Roma allerorts zugefügt wird, und, wo immer ich dazu aufgerufen werde, für sie auftrete…Zu betrügen ist selten rühmlich, aber mich bestohlen zu haben, war verabscheuenswert.“

Gauß, der am 16. März in Leipzig mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet wird, erzählt diese Geschichte, die ihm im Februar 2017 widerfuhr, in seinem neuen Buch „Die Jahreszeiten der Ewigkeit“.

Gauß geht es um seine Anwesenheit in der Welt

Es beruht auf Notizen, die sich der 1954 in Salzburg geborene und dort lebende Autor, Reporter, Kolumnist und Schriftsteller von seinem 60. Geburtstag im Mai 2014 an fünf Jahre gemacht hat, ohne unbedingt gezielt auf eine Veröffentlichung hin zu schreiben.

Ihm ging es primär um seine „Anwesenheit in der Welt“. Als die Corona-Pandemie begann, stellte Gauß die Notizen zu diesem „Journal“ zusammen, explizit um nicht „an der gegenwärtigen Gegenwart“ mitzuschreiben.

Natürlich hat Gauß’ Buch, bei aller Selbstinszenierung, bei allem thematischen Ordnungswillen, den Charakter eines Tagebuchs, hin und wieder wurde es von den Zeitläufen überholt. Es ist denn auch nicht so zwingend und kompakt wie die letzten beiden, ganz wunderbaren Bücher von ihm: „Die unaufhörliche Wanderung“, einem Reportageband, sowie „Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer“, das man als eine Art Autobiografie verstehen kann.

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Trotzdem führt „Die Jahreszeiten der Ewigkeit“ schön in die Gefühls- und Gedankenwelt dieses wertkonservativen Linken und traditionsbewussten, leidenschaftlichen, nie verzweifelnden Europäers, der viele Jahre die Ränder des Kontinents bereiste. Dort, „wo die abgewrackte Vergangenheit auf eine Moderne trifft, die hier gleich als Werk von Ruinenbaumeistern errichtet wurde“, wie es in der Zimmerreise heißt.

Karl-Markus Gauß gibt sich in seinem Journal als Sprach-, Gesellschafts- und Gegenwartskritiker. Er fragt zum Beispiel, da er in Bulgarien auf Roma traf, die sich selbst als „Zigeuner“ bezeichneten und als solche verstanden: „Soll ich auf eine Fremdbezeichnung verzichten, die rassistisch kontaminiert ist, aber auf der die so Stigmatisierten stolz als Selbstbezeichnung beharren?“ Und verzichtete darauf.

Oder er beschäftigt sich mit dem Modebegriff „Opfer“ und analysiert: „Am weitesten bringen es dabei die Täter: Je mehr Roma in Ungarn Opfer der staatlich geförderten rassistischen Gewalt werden, umso bedrohter fühlen sich dort die schlagbereiten Opfer ihrer Opfer.“

Ihm geht es um “Zeit, Zeitfähigkeit, Zeitwürdigkeit”

Gauß hadert mit den Neuen Medien und dem Neoliberalismus, mit der österreichischen Politik (den Abgang von Sebastian Kurz hat er wie ein Prophet vorausgesehen) oder auch mit den „Deutschlandismen“, die er den von den Deutschen manchmal etwas despektierlich genannten „Austriazismen“ entgegenstellt.

Manchmal entsteht der Eindruck, Gauß fröne einem dezenten Kulturpessimismus. Doch bewahrt ihn davor stets der Vorsatz, sein Ohr auf die Schienen der Geschichte zu legen und alles und jedem (und jeder!) seine (ihre!) „Zeit, Zeitfähigkeit, Zeitwürdigkeit“ zu geben.

Geradezu proustisch wird er beim Schildern der Generationenabfolge in seiner Familie. Er erklärt, warum die Ewigkeit nichts für ihn ist, aber sehr wohl die Zeit. „Ich bin, so lange es nur ging (und weitergehen mag), ihr Anhänger geblieben, der sie gegen die Ewigkeit verteidigen mag.“ So ist Gauß auch kein Vergangenheitsfetischist, sondern verortet sich ganz im wandelbaren Hier und Jetzt, in der turbulenten Hypermoderne.

Es versteht sich, dass er den Diebstahl in Berlin zwar persönlich nahm, bald aber Verständnis für die Frauen aufbrachte, warum sollten ausgerechnet sie bessere Menschen sein? Am Ende bewunderte er ihre Kunstfertigkeit.