Hauptsache Dach überm Kopf

256 Filme – wer soll sich das alles angucken? Ich krieg ja nicht mal die ganzen Berlinale-Reihen auf die Reihe. Encounters soll eine Art zweiter Wettbewerb sein; der eigentliche ist wohl selbst den Machern zu schwach. Das meist existentialistische Forum ist um das experimentelle Forum Expanded expandiert. Dazu das oft gute Panorama für Traumreisen um die Welt, die Panorama Dokumente für die Realität. Die Shorts. Perspektive Deutsches Kino. Retrospektive. Classics. Berlinale Series. Hab ich was vergessen? Ach ja: Berlinale Special und Forum Special. Offenbar haben sie im Kino einen Hang zum Speziellen. Vielleicht bin ich deshalb so gerne hier.

Die beste Reihe ist sowieso Generation. Coming-of-Age-Filme mit unverkrampften Figuren, die mutig jugendlichen Herausforderungen ins Auge sehen. Ein junges Publikum, das unverkrampft lacht und gebannt seine eigenen Ängste sieht. Um sie später vielleicht besser zu bannen.

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Auf dem Frühstückstisch findet er einen Zettel: „Pascal, wenn du wach bist, ruf mich an. Esse was. Keinen Blödsinn machen und kein Fernsehen bitte. Mama.“ Pascal ist Kalle, ein ganz normaler besonderer Junge aus Hellersdorf. Er wohnt in den alt gewordenen Neubaublocks an der Allee der Kosmonauten. Die Kamera begleitet sein Erwachsenwerden, mehr als sechs Jahre lang bleibt der Film nah dran: Essen holen als zu erwachsener Knirps bei der Sozialstation („Ich möchte bitte viel!“), Zigaretten und Knutschen als junger Jugendlicher, den abgehauenen Vater vermissen, bei den trinkenden Großeltern aufwachsen, Drogen und Hoffnungen, Straße und Gesetze, zweieinhalb Jahre Jugendknast, zu Hause sein bei Muttern, selbst Vater werden. Sich versuchen zurechtzufinden. Sich selbst nicht finden. „Kalle Kosmonaut“ ist dieses Jahr mein liebster Berlinale-Film. Eine Dokumentation des vergessenen Berlins.

Bloß kein Ghettokind sein

Als Junge sagt Kalle: „Eigentlich braucht man ja nur Essen und Trinken. Ein Dach überm Kopf. Und ‘ne Jacke zum Drüberziehen.“ Als Heranwachsender sagt Kalle: „Es gibt Kerle, die Frauen schlagen. Es gibt Kerle, die sind so’n richtiger Gentleman. Es gibt Streber, die am Computer sitzen. Und es gibt Kerle wie mich.“

Die bisherigen Berlinale-Kolumnen von Robert Ide:

Er will was erreichen, kein Ghettokind sein – so hat ihn sein Vater genannt. Er hängt mit den Kumpels an den Fernleitungsrohren ab, macht Armdrücken mit seiner Mutter. Das Leben ist rau hier draußen am Stadtrand, Drogen werden schon von Kindern vertickt. „Kalle ist nicht so abgehangen und rotzig“, erzählt die Polizistin des Viertels. „Ich hab ihm erzählt, was er für eine Karriere vor sich hat, wenn er sich nicht am Schlüpper reißt.“ Aber Kalle kann das auch nicht besser als andere: sich am Schlüpper reißen.

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Als Jugendlicher sagt Kalle: „Ich bin mit der Straße aufgewachsen. Ein Straßenkind. Wie ein Stück Asphalt, dass da rausgebrochen ist.“ Als Straftäter sagt Kalle: „Ich bin ruhiger geworden. Aber meine Träume gehen immer schlecht aus. Für mich. Oder für andere.“ Als Erwachsener sagt Kalle: „Ich hab viele Pläne gemacht. Aber ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.“

Die Berlinale ist eine Einladung in ferne Welten. Für zwei Stunden einfach raus aus allem – fast egal, welcher Film, welches Kino, welche Reihe. Warum ist uns die Welt von Kalle so fern? Die S-Bahn braucht nur eine halbe Stunde.