Die Auferstehung von Hertha BSC
Mittwoch vor einer Woche stelle ich mir den Wecker auf 08:45 Uhr. Eine Viertelstunde später gibt der Hamburger SV den Ticketverkauf für Gästefans zum Relegationsrückspiel in der Hansestadt frei. Um 09:10 Uhr bin ich dem Nervenzusammenbruch nahe. Immer wieder werden mir auf der Website des HSV freie Plätze im Gästebereich angezeigt, sobald ich sie anklicke, sind die Karten nicht mehr verfügbar. Zwanzig Minuten später erhalte ich den erlösenden Anruf eines meiner besten Freunde. Trotz wiederholtem Serverzusammenbruch hat er es geschafft, zwei Stehplätze in Hamburg zu erwerben. Der Freund ist eigentlich Schalker, hatte viele Jahre eine Dauerkarte für die Arena in Gelsenkirchen. Wieso auch immer, habe ich es ausgerechnet in dieser desaströsen Saison der “alten Dame” geschafft, ihn für Hertha zu begeistern. Mittlerweile ist er besser informiert über verletzte Spieler, Startaufstellungen und Windhorst-Millionen als ich.
Als wir Montagmittag mit dem ICE in Richtung Norden fahren, läuft ein Mann durch die Abteile und fragt alle erkennbaren Hertha-Fans, nach einem Restticket für das Volksparkstadion. Er selbst hat keins mehr bekommen, notfalls versucht er es direkt vor dem Block, erzählt er. Sich alleine auf die Reise zu machen, trotz der fehlenden Garantie ins Stadion zu gelangen, spricht für wahre blau-weiße Liebe.
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In Hamburg angekommen verbringen wir den sonnigen Montag an der Binnenalster mit Bier und McDonalds-Pommes. Irgendwann schreit einer aus unser Gruppe: “Ey Lotka Digger, komm mal rüber.” Marcel Lotka, der verletzte Torwart der Hertha genießt die letzten Stunden vor dem Spiel ebenfalls mit Freunden am Wasser. Er fragt uns, was wir für ein Ergebnis tippen. “Ich habe nicht viel Hoffnung”, entgegnet einer von uns. Lotka antwort recht pragmatisch: “Umso besser, dann kannst du nicht enttäuscht werden.”
In der S-Bahn Richtung Stadion sind die HSV-Fans klar in der Überzahl, die Herthaner dafür umso lauter. Als irgendwann eine Familie mit einem weinenden Kleinkind einsteigt, werden die klassischen Fangesänge kurzzeitig eingestellt. Das Kind hört prompt auf zu weinen. Kurz vor dem Stadion schreit plötzlich eine Berliner Dreiergruppe “Juden HSV”. Eine antisemitische Grenzüberschreitung, völlig unnötig. Die drei Teenager werden sofort vom Rest der Hertha-Fans zur Rede gestellt. Kleinlaut versuchen sie sich rauszureden. Sie würden doch auch auf der Seite “der Juden stehen”, sagt einer. Ich bezweifle, dass sie verstanden haben, worum es wirklich geht. Die prompte Konfrontation und Verurteilung der antisemitischen Parole durch einen Großteil der Fans in der S-Bahn ist eigentlich selbstverständlich, aber dennoch ein wichtiges Zeichen.
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Vor der Spielstätte der Hamburger müssen wir uns zunächst durch ein Meer aus Heimfans kämpfen. Niemand pöbelt uns an, die Stimmung ist friedlich, einer weist uns sogar den richtigen Weg zum Gästeblock. Zum Spiel selbst wurde schon viel gesagt und geschrieben. Nach dem völlig mutlosen Relegations-Hinspiel dachte ich mal wieder, diese Mannschaft hat uns Fans nicht verdient. An diesem Montagabend in Hamburg werde ich eines besseren belehrt. Die Mannschaft spielt, wie man es sich für die gesamte Saison gewünscht hätte. Hinten kompakt, in der Offensive giftig. Dementsprechend ist die Stimmung in der Gästekurve. Neunzig Minuten werden die Berliner angepeitscht, nach dem Abpfiff und dem erfolgreichen Klassenerhalt herrscht bei den meisten in erster Linie Fassungslosigkeit und Erleichterung, es doch noch geschafft zu haben.
An der Würstchenbude vor dem Stadion treffen wir zwei traurige Hamburgerinnen. Sie gratulieren uns, sind faire Verlierer. “Zweite Liga ist auch ok”, sagt die eine und wünscht uns einen schönen Abend. Im Shuttle-Bus zum Stadion zeigt ein Hertha-Fan auf seinem Handy allen Passagieren stolz seinen zweisekündigen Fernsehauftritt bei Sky während des Spiels.
Meine Nacht neigt sich dem Ende zu als ich gegen 02:00 Uhr an einer Straßenecke in Altona in den Armen von mehreren Obdachlosen lande. “Ihr seid so geil, dass ihr das gerissen habt, ihr seid Stars”, sagt ein Mann aus der Gruppe. “Wir sind alle St. Pauli-Fans uns stolz auf euch”. Einmal mehr wird klar: viel mehr Menschen als man denkt, drücken Hertha die Daumen. Und für nicht wenige, bedeutet der Verein alles