Um Himmels Willen
Seit fast einem Jahr schon geistert der Begriff durch die Diskussionen: Berlin soll zur „Draußenstadt“ werden! Wenn Live- und Club-Kultur in geschlossenen Räumen nicht möglich ist, so die schlichte, aber überzeugende Argumentation, dann spielen wir halt im Freien. Die Akteure aller stilistischen Spielarten, aus denen sich die Berliner Szene zusammensetzt, verlassen ihre Ateliers, Proberäume und WG-Küchen, um das erlebnishungrige Publikum unterm freien Himmel zu treffen.
Am 18. Mai 2020 veröffentlichte der „Rat für die Künste“ eine „Stellungnahme zur urbanen Praxis mit und nach Corona“, in der gefordert wird, den Kreativen der Hauptstadt „Brachen, Plätze und leerstehende Gewerbeflächen unkompliziert und kurzfristig“ zur Verfügung zu stellen, damit die dort „kreative Erlebnis- und Lernorte, Aktions- und Bewegungsräume für und mit Nachbarschaft einrichten“ können. Und eben Musik machen sowie Theater aufführen. Das Positionspapier kulminierte in dem Satz: „Wir brauchen mehr Platz zum Ausprobieren!“
Und tatsächlich passierte das in der Hauptstadt fast Undenkbare: Die Idee wurde sofort von der Politik aufgegriffen. Kultursenator Klaus Lederer berichtete bereits am 25. Mai im Kulturausschuss des Abgeordnetenhauses, seine Verwaltung wolle die „Draußenstadt“-Idee unterstützen. Kurz darauf bewilligte der Senat satte sieben Millionen Euro für das freigeistige Freiluft-Projekt.
Kostenlose Freiluft-Events für die Berliner
Dann allerdings passierte erstmal nichts. Das heißt: Die Bürokratie setzte sich in Bewegung, um den Elan mit Antrags- und Ausführungsvorschriften zu unterfüttern. Drei Fördertöpfe wurden geschaffen: Zum einen bekam jeder Berliner Bezirk Geld für Kiezprojekte, zum anderen entstand für eher soziologisch grundierte Ansätze der Fonds „Urbane Praxis“, ausgestattet mit 1,2 Millionen Euro. Und schließlich wurde noch die große, landesweite Wundertüte mit dem knalligen Titel „Call for action“ erfunden.
Letzteres soll das Herzstück der „Draußenstadt“ sein. Finanziert werden Freiluft-Events, die für die Besucher kostenlos sind. Am 28. September wurde das Internetprotal, auf dem sich interessierte Künstlergruppen bewerben konnten, freigeschaltet. Doch schon vor dem Ende der Bewerbungsfrist stoppte Klaus Lederer die Ausschreibung. „Angesichts einer Situation, in der wir alle erneut gezwungen sind, auf Sicht zu fahren, ist es für die Senatsverwaltung für Kultur und Europa nicht zu verantworten, grünes Licht für zusätzliche publikumsrelevante Veranstaltungen im Freien zu geben“, hieß es am 15. Oktober in einer Presseerklärung.
Auf Bezirksebene passierte einiges
Seitdem hoffen die „Action“ und ihre Akteure vergeblich darauf, seitens der Verwaltung erneut aufgerufen zu werden. Immerhin konnte am 3. Oktober der „Tag der Clubkultur“ stattfinden, an 40 Orten im Stadtraum – die allerdings, wie Lederer betonte, dabei nicht dem Hedonismus huldigten, sondern ihre Kompetenz in Sachen gesellschaftlichem Engagement und Diversity unter Beweis stellen sollten.
Ein bisschen besser lief es auf Bezirksebene: Hier konnten sowohl 2020 als auch 2021 die zur Verfügung stehenden 600 000 Euro ausgereicht werden, für verschiedenste kleine und kleinste Veranstaltungen. Die Gelder für die „Urbane Praxis“ dagegen wurden erst vor wenigen Wochen überhaupt ausgeschrieben – doch dann gingen bis zum Einsendeschluss am 14. April in Windeseile 650 Bewerbungen ein. Da lauert jede Menge Frust – denn die siebenköpfige Jury, die Mitte Mai tagt, wird ja nur gut ein Zehntel der Projekte bewilligen können, die sich auf intellektuelle Weise mit dem Thema Stadtgestaltung auseinandersetzen wollen.
Der Fan-Club aus dem Abgeordnetenhaus
Gerade weil sich die schöne Idee bisher nicht materialisieren konnte, ist die „Draußenstadt“ ein Dauerthema im Kulturausschuss des Abgeordnetenhauses. Denn hier hat sich über alle Fraktionsgrenzen hinweg ein Fan-Club des Vorhabens formiert. Auch bei der Sitzung an diesem Montag wurden wieder neugierig nachfragt – und einmal mehr musste Staatssekretär Torsten Wöhlert die Parlamentarier vertrösten. Weil es einfach nicht so richtig vorangehen will. Wöhlert berichtete, die Kulturverwaltung habe jetzt noch einmal alle Bezirke angeschrieben, um sie zu fragen, welches ihre Außenspielorte seien: „Wir schauen in die Stadt hinein, wo was stattfinden darf.“
Diese Formulierung des Staatssekretärs klingt zwar geradezu poetisch – und ist trotzdem nicht dazu angetan, den darbenden Künstler:innen und ihrem potenziellen Publikum Hoffnung zu machen. Müssten die Abstimmungen mit den Bezirken nicht längst erledigt sein? Warum waren nicht schon zum ursprünglichen Start der „Call for action“-Ausschreibung im letzten September sämtliche Fragen mit den zuständigen Genehmigungsstellen geklärt worden, vom Lärmschutz bis zur Müllbeseitigung? Als die Abgeordneten wissen wollten, wann denn mit einem zweiten Ausschreibungsanlauf zu rechnen sei, konnte Torsten Wöhlert kein konkretes Datum nennen.
Die Szene braucht jetzt Signale der Politik
Dabei wäre es gerade jetzt so wichtig, dass die Politik Perspektiven aufzeigt, indem sie klar und deutlich sagt, was unverzüglich im Kulturbereich passieren kann, sobald die Inzidenz unter 100 fällt. Sicher, die Verwaltung ist nach einem Jahr Arbeit am Limit erschöpft, doch die Künstler:innen brauchen jetzt das Signal, dass Ruckzuck-Lösungen möglich sind, wenn die Verantwortlichen den Fuß von der Notbremse nehmen dürfen. Darum gilt es, die Gelder des „Call for action“ jetzt so schnell wie möglich auszuschütten.
Stattdessen zergrübelt sich die Bürokratie den Kopf über komplizierteste Details. Wie man es zum Beispiel hinbekommen könnte, dass sämtliche Schnellteststationen der Stadt über eine „digitale Schnittstelle“ mit den Kulturinstitutionen verbunden werden. Damit die Einlasskontrolle technisch vernetzt stattfinden kann, wenn irgendwann das abgebrochene Pilotprojekt zur Öffnung der Bühnen wieder anläuft. Geht das nicht pragmatischer? Jeder Gast zeigt seinen Schnelltest vor, ob als Ausdruck auf Papier oder auf dem Handy. Beim Click&Meet-Shoppen ist das schließlich auch erlaubt.