Musikfest Berlin: Uraltes Ritual aus Seoul

An jedem ersten Sonntag im Mai wird Seoul zum Schauplatz eines spektakulären Ereignisses. Dann werden auf dem Zentralplatz des Jongmyo-Schreins die 19 König:innen der Joseon-Dynastie (1392-1910) in einer monumentalen Gedenkzeremonie geehrt, an der bis zu 500 Personen beteiligt sind. Speisen werden zubereitet und vor den 19 Kammern den königlichen Ahnen dargeboten, die während der Zeremonie in hölzernen Ahnentafeln, den „Shinju“, präsent sind.

Das riesige Areal hallt dabei wider vom Klang der „Jongmyo Jeryeak“ – der „Zeremonialmusik am Jongmyo-Schrein.“ Im Rahmen des Musikfests Berlin ist dieses Gesamtkunstwerk aus Instrumentalmusik, Rezitation und Tanz, seit 2001 immaterielles Unesco-Weltkulturerbe, nun erstmalig seit 1985 in einer Deutschlandtournee zu erleben.

In der Berliner Philharmonie wird dabei von den Mitgliedern des Court Music Orchestra und des Dance Theatre vom National Gugak Center aus Seoul ausschließlich der musikalische Teil des Rituals dargeboten. Wo sonst westliche Orchestermusiker mit Applaus begrüßt werden, ist es beim Einzug der 46 in rote Gewänder gehüllten Musiker:innen feierlich still. Erst nach der Prozession regt sich gedämpfter Applaus.

Verschiedene Zithern, Gayageum und Geomungo; Bambusflöten und das Haegeum, ein zweisaitiges Streichinstrument, werden gestimmt. Auf den Ruf des prächtig gekleideten Zeremonienmeisters signalisiert die kastenförmige Trommel „Chuk“ den Beginn der Aufführung. Ihre grüne Farbe symbolisiert den Osten und den Anfang.

Orchester und Sänger intonieren unisono pentatonische Klangflächen und komplexe Rhythmen, die sich ständig wiederholen. Das höfische Zeremoniell wird hier, wie auch in Europa, durch langsame, getragene Klänge ausgedrückt. Die beiden Sänger, deren Mikroports die einzige moderne Zutat bilden, preisen Gerechtigkeit und Tugend der Könige. Es gibt keinen Dirigenten, die Musiker:innen spielen in sich selbst versunken, ohne sichtbaren Augen- oder Körperkontakt untereinander.

Jede Geste der Musizierenden strahlt Ruhe und Würde aus

Der schnarrende Klang der Eo, eines Reibinstrumentes in Form eines kauernden weißen Tigers, beendet jeweils die einzelnen Gesänge: Die Farbe Weiß steht für den Osten, den Sonnenuntergang und das Ende.

In bodenlange blaue Roben gekleidete Tänzer:innen preisen derweil die Errungenschaften der königlichen Ahnen durch beeindruckend synchron ausgeführte Tänze. Auch hier beherrschen Ruhe und Würde jede Geste. Requisiten wie Zepter, Flöte und hölzerne Schwerter symbolisieren Gelehrsamkeit und militärische Stärke der König:innen.

Vieles an Feinheiten und Bedeutungen bleibt Außenstehenden zwangsläufig verborgen. Das hervorragende Programmheft und die Übertitel sorgen dafür, dass man dem Ablauf dennoch folgen kann. Dies ist kein Konzert im üblichen Sinne, sondern ein feierliches, ernstes Ritual, spiritueller Akt, geschichtliche Chronik und politisches Manifest zugleich. Die gleichförmigen Klänge und Rhythmen führen zu einer Selbstversenkung, welche die Zeremonie ohne jeden Gedanken an musikalische Entwicklung im Jetzt verankert. 

Dass das Ritual seit ca. 600 Jahren weitestgehend unverändert geblieben ist, liegt nicht zuletzt daran, dass Ablauf und Musik schriftlich genau festgehalten wurden. Der in Korea hoch angesehene König Sejong (1397-1450) spielt dabei die entscheidende Rolle: Er komponierte selbst die Musik, schuf im Jahre 1443 das koreanische Alphabet und später das Notationssystem „Chŏngganbo“.

Der Konfuzianismus gewann schon um das Jahr 1000 in Korea an Einfluss und wurde während der Joseon-Dynastie zur Staatsphilosophie. Sein Ziel ist das Gleichgewicht der menschlichen Gesellschaftsordnung, zu der auch die Vorfahren zählen. Ihre Verehrung in bestimmten Ritualen soll, laut Chungil Lee vom koreanischen Kulturzentrum, „im Herzen und in Gedanken die Ahnen ehren und Nähe schaffen.“

Jongmyo Jeryeak mit ihrer festgeschriebenen Choreographie ist nicht nur ein ästhetisch ansprechendes Gesamtkunstwerk; das Ritual hat auch eine tiefere Bedeutung als Symbol einer wohlgeordneten menschlichen Gesellschaft.

Der Abend ist eine Herzensangelegenheit des künstlerischen Leiters des Musikfests Berlin, Winrich Hopp. Knapp vier Jahre dauerten, von Corona unterbrochen, die logistischen Vorbereitungen. In Korea selbst verliert der Konfuzianismus langsam an Einfluss. Auch für viele Koreaner:innen, die anlässlich des Nationalfeiertages der Aufführung beiwohnten, war dies der erste Kontakt mit dem Ritual. Bei seiner Tournee durch Deutschland sind Jongmyo Jeryeak viele aufmerksame Augen und Ohren zu wünschen.

Zur Startseite