Der etwas andere Weihnachtsfilm: Die Leiden des jungen Esels Eo

Dieser Blick lässt einen unwillkürlich zusammenzucken. Disproportional groß sind die Augen und so weit am Kopf auseinanderliegend, dass sie keine räumliche Dimension wahrnehmen. Aber durch ihre Größe fungieren die Augen des Esels auch als Projektionsfläche für den Menschen. Man fühlt sich angesprochen, sein Blick berührt die Seele, obwohl der Esel über siebentausend Jahre nur als Nutztier domestiziert wurde. Diese Augen sind für den polnischen Regisseur Jerzy Skolimowski der Schlüssel zu seinem Film „Eo“. „Ihr Ausdruck hat etwas Melancholisches und Ambiguines“, sagt er im Gespräch über Zoom. „Was uns Menschen die Möglichkeit gibt, den Blick des Esels als Kommentar auf unsere Welt zu interpretieren.“

Lasst uns kein konventionelles Kino machen.

Jerzy Skolimowski, Regisseur

Der 84-Jährige, neben Roman Polanski (für den er 1962 das Drehbuch zu „Das Messer im Wasser“ schrieb) und Andrzej Wajda der Mitbegründer des jungen polnischen Kinos, hat in seiner über fünfzigjährigen Karriere mit großen Namen gedreht, mit Jean-Pierre Léaud, Gina Lollobrigida, John Hurt, Jeremy Irons und Vincent Gallo. Aber seine Bewunderung gilt Hola, Tako, Marietta, Ettore, Rocco und Mela, seinen sechs Hauptdarstellern in „Eo“ (Polnisch für „I-A“). Weil ein Esel keine Rolle spielt, nennt er die Zusammenarbeit mit ihnen „bewegender als die größte Performance eines Filmstars“. Sie stehlen am Schluss seiner episodischen Leidensgeschichte – eine Art Roadmovie mit Esel; oder ein Krippenspiel ohne Krippe – sogar Isabelle Huppert in einem verblüffenden Cameo die Schau.

Mythos der leidenden Kreatur

Jutta Person schreibt in ihrem schönen Eselbuch in der Reihe „Naturkunden“ im Matthes & Seitz Verlag über die Beziehung von Mensch und Esel: „In der leidenden Kreatur lebt der Mythos der Antike heimlich weiter. Dazu kommt, dass ein störrischer Stehenbleiber gleichzeitig ein fügsamer Dulder sein soll.“ Denn ein Esel ist nicht nur ein Esel. Bei Robert Bresson ist der Esel Balthasar auch eine christliche Leidensfigur und ein nachsichtiger Stoiker.

„Zum Beispiel Balthasar“ kam wie Skolimowskis Debüt „Walkover“ 1966 in die Kinos, und er veränderte das Leben des jungen Filmstudenten. „Ich war damals zynisch“, erzählt er über seine prägende Esel-Begegnung. „Nach dem Film hatte ich das erste und einzige Mal im Kino Tränen in den Augen.“ Skolimowski sagt, in diesem Moment habe er die emotionale Kraft des Kinos verstanden. 

Man kann „Eo“ als Hommage an und gleichzeitig als Re-Imagination von Bresssons Film verstehen. Aber sein Eo ist keine Märtyrerfigur, die für die Sünden der Menschen (Umweltzerstörung, Fleischindustrie, Gier) stirbt, sondern ein Proletarier, wie Skolimowski mit einem schelmischen Blinzeln betont. Ein Malocher und Gequälter.

Jerzy Skolimowski gehörte in den 1960ern zu den Mitbegründern des jungen polnischen Kinos. Sein Film „Eo“ läuft seit Donnerstag in den Kinos.
Jerzy Skolimowski gehörte in den 1960ern zu den Mitbegründern des jungen polnischen Kinos. Sein Film „Eo“ läuft seit Donnerstag in den Kinos.
© Rapid Eye Movies

Eo führt im Zirkus für seine Dompteurin Kasandra (Sandra Drzymalska) Kunststückchen auf, wird von Tierschützern befreit, als Lasttier auf einem Schrottplatz missbraucht, dann als Fußball-Maskottchen und kurzzeitig auch als Fleischversorger betrachtet. Geprügelt, dann wieder gepflegt. Sein stolzer Blick bleibt ungebrochen. Wir sehen die Welt durch seine Augen, sodass die Reisestationen mitunter absurde Züge annehmen. „Eo“ ist das Spätwerk eines ci­ce­ro­nischen Humoristen, der ohne Hochmut aus der Gegenüberstellung von trivialen Momenten Komik entstehen lässt.

Von Malibu in den Masurenwald

So eine Haltung hilft vermutlich auch, wenn man es 25 Jahre in Malibu Beach ausgehalten hat (oder nebenbei Gastauftritte in Marvel-Filmen absolviert). Los Angeles ist wohl der größtmögliche Gegensatz zu den Wäldern von Masuren, wo Skolimowski seit 2004 wieder mit seiner Lebens- und Arbeitspartnerin Ewa Piaskowska lebt.

Seine Liebe zur Natur, sagt Skolimowski, der heute kaum noch Fleisch isst, sei neben dem Bresson-Film die wichtigste Inspiration für „Eo“ gewesen. „Wenn ich mit unserem Hund spazierengehen, treffen wir oft auf wilde Tiere, Hirsche, Füchse. Wir sind Eindringlinge in ihrem Reich.“ Er erzählt, dass er in Drehpausen viel Zeit mit seinen Eseln verbracht habe. Sie hätten eine gemeinsame Mission, habe er ihnen immer wieder ins Ohr geflüstert. „Der Klang meiner Stimme hat eine Verbindung zwischen uns hergestellt. Aber natürlich haben auch die Karotten in meiner Hand geholfen“, lacht er.

Als Tierfilm in der Tradition von „Balthasar“ (oder „Lassie“) wäre „Eo“ aber nicht halb so aufregend, würde Skolimowski mit seinen 84 Jahren nicht auch noch einmal formale Experimente wagen. „Heute weiß ich nach 15 Minuten, wie ein Film ausgeht. Mich langweilen lineare Geschichte mittlerweile.“ Und wäre die Arbeit mit Tieren nicht schon unberechenbar genug, hat Skolimowski auch seinen Kameramann Michał Dymek ermutigt, Risiken einzugehen: „Lasst uns kein konventionelles Kino machen.“

Einige Einstellungen aus „Eo“ erinnern an Traumbilder. Eselträume. Die Dronenflüge über die Landschaft in Blutrot getaucht, die Laserpointer der Jäger im nächtlichen Wald. Das Zusammenspiel aus objektiven Mastershots und dem subjektiven Blick Eos vermisst die Welt neu. Irgendwo dazwischen, sagt Skolimowski noch, läge das Geheimnis des Kinos.

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