Deutschlands wichtigster Lyrikkritiker: Michael Braun ist gestorben
Nach einer schweren Krankheit war er dem Tod vor einigen Jahren schon einmal von der Schippe gesprungen und hatte daraufhin beschlossen, alles Irdische nicht mehr übertrieben ernst zu nehmen. Michael Braun wollte nur noch über Dinge schreiben, die ihm wichtig waren, und die fand er vor allem in der Poesie.
Nicht nur durch die Ausdauer und Akribie, mit der er dies verfolgte, kann man behaupten, dass er Deutschlands wichtigster Lyrikkritiker war. Es gab auch keinen zweiten, der einen vergleichbaren Überblick über die entlegensten Veröffentlichungen gehabt hätte.
In gewisser Weise erfand er die neue deutsche Lyrikszene der vergangenen 20 Jahre mit, und sie konnte auf seinen wohlwollenden Beistand zählen.
Ob er mit Hans Thill im Wunderhorn Verlag die maßgebliche Anthologie „Aus Mangel an Beweisen – Deutsche Lyrik 2008 – 2018“ herausgab oder zusammen mit dem befreundeten Dichter Paul-Henri Campbell in der Zeitschrift „Volltext“ ein laufendes „Lyrik-Logbuch“ führte: Ihm war stets bewusst, dass er ein eigentümliches Feld zwischen künstlerischer Größe und selbstreflexivem Ghetto beackerte. Halb Pater familias, halb Direktor eines Flohzirkus, bemühte er sich, auch dem Geringsten mit theoretischer Durchdringungskraft literaturhistorisches Gewicht zu verleihen.
Regelmäßige Beiträge im Tagesspiegel
Als Kritiker, der auch für den Tagesspiegel regelmäßig schrieb, war Michael Braun zum Lieben berufen. Die ironische Distanz, die sich kaum je ins Polemische steigerte, blieb dem Menschen vorbehalten. Michael Braun war ein begabter Spötter. Mit kleinen trockenen Bemerkungen hielt er sich aus reinem Selbstschutz vom Leibe, was ihn in seinem pfälzischen Stoizismus behinderte – insbesondere die wachsende Kulturverachtung, die er in seinem beruflichen Umfeld erlebte. 1958 in Hauenstein geboren, konnte er auch vor den Mikrofonen von Deutschlandfunk oder SWR seine Herkunft nie verleugnen. Seine Heimatstadt Heidelberg mit ihrem Kurpfälzisch verlangte es ihm auch nicht ab.
Er hatte aber auch seine Erfahrungen, mit welch empfindlichen Charakteren er zu tun hatte. Von Gerhard Falkner, dessen „Text + Kritik“-Band er herausgab, sprach er unter Anspielung auf Stefan George immer nur als dem „Meister“.
Sogar Brauns heftigstes Kopfschütteln über scheinbar unversöhnliche Kämpfe in der Lyrikarena war jedoch von einer warmherzigen Zugewandtheit getragen: Die wahren Kriege, wusste er, werden anderswo ausgetragen. Daraus folgt nur nicht, dass poetologische Debatten unnütz wären.
Ihre Kenntnis ging in die zahllosen Kommentare ein, die er nicht zuletzt als langjähriger Herausgeber des zusammen mit dem Deutschlandfunk veranstalteten Lyrikkalenders schrieb. Er veröffentlichte mehrere Essaybände, darunter einen über Hugo Ball, Gespräche über die Beziehungen zwischen Poesie und bildender Kunst – sowie erst vor wenigen Wochen als Herausgeber eine Aufsatzsammlung zum 50. Todestag von Günter Eich. Seine Verdienste wurden erst spät, im Jahr 2018, mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik gewürdigt.
Noch am Donnerstagabend saß er bestens gelaunt und zuversichtlich mit Manfred Metzner, dem Verleger des Wunderhorn Verlags, in Heidelberg zusammen. In der Nacht hat ihn die Endlichkeit, deren er sich immer bewusst war, unerwartet eingeholt.
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