30 Frauen, die den Comic verändert haben
In einem fiktiven arabischen Staat regiert das Matriarchat. Die Staatschefin herrscht mit harter Hand, Männer werden auf der Straße von Frauen zum Sexobjekt degradiert, übel angemacht und sind auch andernorts der Willkür ihrer Mitbürgerinnen ausgesetzt. Es sei denn, sie haben eine starke Beschützerin.
Szenen aus der politischen Comic-Satire „Tu ne sais pas qui est ma mère?“ der Beiruter Zeichnerin Tracy Chahwan. Die bislang nicht auf Deutsch veröffentlichte Arbeit der 1992 geborenen Künstlerin ist eine der Entdeckungen, die auch gestandene Comic-Leserinnen und -Leser im Berliner Museum für Kommunikation derzeit machen können.
Dort sind unter dem wortspielerischen Titel „Vorbilder*innen. Feminismus in Comic und Illustration“ bis zum 10. Oktober Arbeiten von 30 Comiczeichnerinnen zu sehen, die sich im weitesten Sinne als feministisch bezeichnen lassen.
Dazu gehören Wegbereiterinnen der Kunstform wie Julie Doucet aus Kanada, deren schonungslos autobiografische Arbeiten viele andere Zeichnerinnen geprägt haben, oder Anke Feuchtenberger aus Deutschland, die mit einer Porträtgalerie ihrer weiblichen Vorbilder vertreten ist.
Es finden sich internationale Bestseller-Autorinnen wie Alison Bechdel („Fun Home“) und Liv Strömquist („Der Ursprung der Welt“), die sich in ihren Arbeiten mit Geschlechterrollen beschäftigen. Dazu kommen erfolgreiche heimische Zeichnerinnen wie Ulli Lust, Barbara Yelin oder Katja Klengel.
Starke Prinzessinnen
Daneben lässt sich so manche Zeichnerin entdecken, die hierzulande bislang kaum bekannt ist. Neben Tracy Chahwan ist das zum Beispiel die von Klassikern wie „Sailor Moon“ inspirierte schwedische Manga-Zeichnerin Natalia Batista. Sie hinterfragt in ihrer Fantasyreihe „Sword Princess Amaltea“ eingeführte Rollenbilder, unter anderem indem bei ihr die Prinzessinnen stark sind und die Prinzen aus Notlagen retten.
Oder die Kroatin Helena Janecic, die Ulli Lust als ihr Vorbild nennt und deren Protagonistinnen sich bei Sex-Shop-Besuchen und in anderen Alltagsszenen über weibliche Lust austauschen.
Die zentralen Schmuckstücke der Ausstellung sind die vielen Originalzeichnungen. So unmittelbar wie hier lässt sich der individuelle Strich von Comicschaffenden sonst selten betrachten. Zwei große handgetuschte Seite aus Alison Bechdels international erfolgreicher Autobiografie „Fun Home“ zeigen ihre enorme handwerkliche Souveränität und beeindrucken durch einen filigranen Stil, der in den Buchausgaben ihrer Werke so deutlich nicht zu erkennen ist.
Julie Doucets fast bis zum letzten Millimeter gefüllte Panels vermitteln einen intensiven Arbeitsprozess, der gut zu ihren von mancher Obsession erzählenden autobiografischen Arbeiten passt.
Und eine Seite von Pia Guerra aus ihrem zusammen mit dem Szenaristen Brian K. Vaughan geschaffenen Science-Fiction-Comic „Y – The Last Man“ sieht im gepinselten Schwarz-Weiß-Original lebendiger aus und hat feiner akzentuierte Linien, als es bei den später für die Veröffentlichung am Computer kolorierten Seiten der Fall ist.
Berührungsverbot für die Vulva
Faszinierend auch die Einblicke in den künstlerischen Schaffensprozess, den zum Beispiel die Skizzen zu Aminder Dhaliwals erfolgreichem Satire-Strip „Woman World“ vermitteln, die von einer Welt ohne Männer erzählt.
Und Judith Vanistendaels Tuscheskizzen für ihre Graphic Novel „Penelopes zwei Leben“, deren Protagonistin sich zwischen ihrer Familie und ihrer Arbeit entscheiden muss, geben eine Ahnung von den handwerklichen Herausforderungen und Möglichkeiten der Aquarelltechnik für den Comic.
Einen großen Fokus haben die Kuratorinnen – die Journalistin Lilian Pithan und die Übersetzerin Katharina Erben – auf Zeichnerinnen gelegt, die in der deutschen Szene seit einigen Jahren eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Darunter Aisha Franz, die sich in der Science-Fiction-Erzählung „Shit is real“ unter anderem mit weiblicher Selbstermächtigung beschäftigt.
Oder Ulli Lust, deren Erinnerungen an ihre Punk-Jugend mit dem Titel „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ international gefeiert wurden. Lust ist hier mit der wenig bekannten Kurzgeschichte „Lulu und die Scham“ vertreten, die davon handelt, wie wie sie als Kind lernte, die Vulva nicht zu benennen oder zu berühren.
Auch Tagesspiegel-Zeichnerinnen sind dabei
Mit Barbara Yelin, Birgit Weye, und Lisa Frühbeis sind zudem drei Zeichnerinnen vertreten, die mehrere Jahre lang auch für den Tagesspiegel gearbeitet haben und in der Sonntagsbeilage von starken Frauen und weiblichen Perspektiven erzählt oder in humorvoller Weise feministische Diskurse auf ihren Alltag heruntergebrochen haben. Frühbeis’ unter dem Titel „Busengewunder“ gesammelte Tagesspiegel-Strips wurden im vergangenen Jahr mehrfach mit Kunst- und Comicpreisen bedacht.
[„Vorbilder*innen. Feminismus in Comic und Illustration“, Museum für Kommunikation Berlin, bis 10. Oktober, Di 11–20 Uhr, Mi bis Fr 11–17 Uhr, Sa, So und Feiertage 10–18 Uhr, Eintritt 6 €, ermäßigt 3 €.]
Strukturiert wird die Ausstellung durch acht gut gewählte Themengruppen. Texttafeln geben dem Publikum neben Informationen über die gezeigten Künstlerinnen ihre Werke auch ein paar Kategorien an die Hand, anhand derer sich die Arbeiten in feministische Diskurse einordnen lassen.
Das reicht von der Dekonstruktion klassischer Rollenbilder im Kapitel „Gender Reverse“ über die Bedeutung von Netzwerken unter dem Titel „Girls’ Clubs“ bis zur Beschäftigung mit weiblichen Körperbildern unter dem Titel „Body & Sex Positive“. Video-Interviews und eine gut sortierte Leseecke laden zur vertieften Beschäftigung mit den hier präsentierten Arbeiten ein.
Erarbeitet wurde „Vorbilder*innen“ vom Internationalen Comic-Salon Erlangen in Zusammenarbeit mit dem Museum für Kommunikation Berlin, nach der Station in Berlin soll sie unter anderem im Erika-Fuchs-Haus (Museum für Comic und Sprachkunst) in Schwarzenbach an der Saale zu sehen sein sowie vom 16. bis 19. Juni 2022 beim 20. Internationalen Comic-Salon Erlangen.
Naturgemäß kann so eine Ausstellung, die 30 ausgewählte Zeichnerinnen zusammenbringt, nur einen Ausschnitt des Themengebietes vermitteln. Manche Pionierin der Kunstform fehlt, für den Comic international besonders wichtige Regionen wie Japan werden nur gestreift.
Aber Vollständigkeit ist hier gar nicht das Ziel. Die Schau soll vielmehr exemplarisch vermitteln, wie wichtig Zeichnerinnen in der lange Zeit männlich dominierten Kunstform inzwischen geworden sind und wie sie den Comic mit oft spezifisch weiblichen und feministischen Inhalten und Darstellungsformen bereichert haben. Das gelingt der Ausstellung auf ganzer Linie.