England schwankt zwischen Euphorie und Unglauben
Um die Bedeutung dieser warmen Nacht an der englischen Südküste zu begreifen, musste man sich zum Beispiel Ellen White anschauen. Die Angreiferin von Manchester City ist mit 33 Jahren die älteste Stammspielerin im englischen Nationalteam, sie hat mehr als 100 Länderspiele gemacht und ist Rekordtorschützin ihres Landes, doch nach dem 8:0 gegen Norwegen im zweiten EM-Vorrundenspiel sprang sie über den Rasen des Stadions in Brighton wie ein Teenager, der von seinen Eltern die Erlaubnis erhalten hatte, zum ersten Mal in die Disco zu gehen.
Zwei Treffer hatte White beigesteuert zum höchsten Erfolg überhaupt bei einer EM, Männer-Turniere eingeschlossen, an zwei weiteren Toren war sie beteiligt. Sie zerstreute damit die Zweifel, die es zuletzt an ihrer Person gegeben hatte. Viele Beobachter waren der Meinung, dass Trainerin Sarina Wiegman im Sturm den jüngeren Alessia Russo oder Bethany England den Vorzug erteilen sollte.
Die Gala gegen Norwegen war eine Befreiung für White, wie sich an ihrem Jubel ablesen ließ, und es war eine Befreiung für die englische Auswahl. Nach dem zähen 1:0 zum Start gegen Österreich gelang dem Team das, was in der Fachsprache als „Statement-Sieg“ bezeichnet wird. England löste mit der Demontage der Startruppe aus Skandinavien um Ex-Weltfußballerin Ada Hegerberg die hohen Erwartungen des heimischen Publikums bei der EM ein und brachte sich als Top-Favorit auf den Titel in Stellung.
Nein, mehr noch: Die Nacht von Brighton übertraf die schönsten Fantasien und dürfte dazu führen, dass die Euphorie im Land kaum noch einzufangen ist. Alles andere als der EM-Sieg am 31. Juli im Wembley-Stadion dürfte nach der Glanzleistung gegen Norwegen als Scheitern gewertet werden.
Ein Erfolg nach Wiegmans Geschmack
Trainerin Wiegman weiß, wie man ein Team erfolgreich durch ein Turnier auf eigenem Boden manövriert, sie coachte das Heimteam bei der EM 2017 in den Niederlanden zum Titel. Nach dem 8:0 in Brighton, das England schon vor dem abschließenden Vorrundenspiel gegen Nordirland den Viertelfinal-Einzug als Gruppensieger brachte, versuchte sie, die Euphorie zu bremsen. „Es sind nur drei Punkte. Es macht keinen Unterschied, ob man 1:0 oder 8:0 gewinnt“, sagte sie, doch auch sie war nicht immun gegen die Wucht des Erlebten.
„Wenn man schon zur Pause 6:0 führt, kann es vorkommen, dass danach alle Spielerinnen ihr eigenes Ding machen. Aber das ist nicht passiert. Ich bin sehr glücklich mit der Leistung“, sagte sie und wirkte so heiter wie wohl noch nie seit ihrem Amtsantritt im vergangenen Herbst.
Es war ein Erfolg nach Wiegmans Geschmack. Neben dem Ergebnis erfreute sie das Zustandekommen. Eines ihrer Hauptanliegen ist es, England weniger abhängig von den Treffern von Rekordtorschützin White zu machen und dem Team eine Gnadenlosigkeit im Umgang mit Chancen anzutrainieren. Gegen Norwegen zeigte die Auswahl die gewünschte Effizienz in nicht für möglich gehaltener Vollendung und stellte ihre gesamte Offensivkraft zur Schau.
Den Maßstäben gerecht werden
Beth Mead brillierte mit drei Toren und einer Vorlage, Lauren Hemp, Englands potenziell beste Spielerin, erzielte einen Treffer und bereitete einen weiteren vor, dazu verewigte sich auch noch die eingewechselte Alessia Russo mit einem Tor in der Statistik. „Die Bedrohungen sind jetzt über den ganzen Platz verteilt“, schrieb der „Guardian“ über ein englisches Team, bei dem viele Spielerinnen den Unterschied machen können.
Die Reaktionen auf den Rekordsieg wurden von zwei Gefühlen geprägt, nämlich von Euphorie – und von schierer Ungläubigkeit. „Zur Halbzeit dachte ich: Was ist denn hier los?“, berichtete Trainerin Wiegman, die sich auf „ein enges Spiel“ eingestellt hatte. „Sie mag sich gefragt haben, ob sie an diesem brütend heißen Abend zu lange in der Sonne gewesen war“, mutmaßte die „Times“.
Der „Telegraph“ bezeichnete die Veranstaltung als Spiel „jenseits der wildesten Träume“ und urteilte: „Die Leistung war so nah an der Perfektion, wie es für eine Mannschaft in England-Trikots wohl möglich ist.“ Die Herausforderung im weiteren EM-Verlauf besteht darin, den Maßstäben gerecht zu werden, die das Team mit der Gala an der Südküste gesetzt hat.