Ein Vorkämpfer für die Anerkennung des Comics

Als Kind war er einer der ersten regelmäßigen Comicleser der Bundesrepublik, später einer der engagiertesten Vorkämpfer für die Anerkennung der Kunstform hierzulande. Das Leben von Stefan Neuhaus, dem langjährigen Vorsitzenden des Deutschen Comicvereins, war eng mit der vielfältigen Geschichte der sequenziellen Bilderzählung verbunden. Jetzt ist er mit 74 Jahren gestorben, wie der Comicverein mitteilte. Er hinterlässt seine Frau und eine gemeinsame Tochter.

Seine Leidenschaft begann spätestens im August 1951 in West-Berlin: Da erschien in Deutschland das erste Heft der Zeitschrift „Micky Maus“. Stefan Neuhaus, der gerade vier geworden war, bekam es von seinem Vater geschenkt. Der war dem Comic gegenüber für damalige Verhältnisse ungewöhnlich offen.

So hat es Neuhaus im vergangenen Winter dem Autor dieses Artikels erzählt, Anlass war eine Reihe von Videointerviews über seine umfangreiche Comicsammlung. Angeregt hatte die Videos der Deutsche Comicverein, der die Sammlung nach seinem Tod bekommen soll. Damals begann Neuhaus angesichts einer schweren Krebserkrankung bereits, sich über seinen Nachlass Gedanken zu machen, am Dienstag ist er der Krankheit erlegen.

Der Blick von Stefan Neuhaus auf die Welt und die Comics war von einer großen Offenheit geprägt. Anders als manche anderen Fans, die sich vor allem für ein Genre, eine Stilrichtung oder eine bestimmte Untergruppe interessieren, war er bis zuletzt neugierig auf fast alles, was die Kunstform zu bieten hatte. Zudem hatte er Freude daran, seine Begeisterung mit anderen zu teilen. Und das mit einer Energie und Zielstrebigkeit, die ansteckend war.

Stefan Neuhaus konnte sich am Avantgarde-Strich des Berliner Zeichners Atak ebenso erfreuen wie an den Arbeiten des Superhelden-Pioniers Jack Kirby, französische Meister wie Bilal und Tardi fanden sich in seiner Sammlung ebenso wie George Herrimans absurd-philosophische „Krazy-Kat“-Zeitungsstrips. Man konnte sich mit ihm über die jüngsten Arbeiten von Mawil und Ralf König ebenso unterhalten wie über abstrakte, wortlose Comics oder Fundstücke, die ihm in Polen, Israel oder Frankreich untergekommen waren.

Die Freude am Comic konnte auch der Deutschlehrer nicht verderben

Und beim Internationalen Comic-Salon Erlangen, dem wichtigsten deutschen Szene-Event, das er trotz fortgeschrittener Erkrankung vor drei Wochen besuchte, erzählte er in einer Pause zwischen seinen Entdeckungstouren mit Begeisterung von neuen studentischen Arbeiten, auf die er gerade gestoßen war.

Die Begeisterungsfähigkeit von Stefan Neuhaus und seine Energie waren ansteckend.Foto: Merit Neuhaus

Nach der „Micky Maus“ – von deren Lektüre ihn in der Grundschule auch abfällige Kommentare seines Deutschlehrers nicht abbringen konnten, wie er im Videointerview erzählte – begeisterten Neuhaus später als Studenten und angehenden Kunstlehrer die Underground- und Independent Comics aus den USA und europäischen Comicländern.

Zu den Werken aus jener Zeit, die ihm in seiner Sammlung besonders am Herzen lagen, gehören Arbeiten von Robert Crumb oder Bernie Krigstein („Master Race“) sowie der Pop-Art-Comic „Jodelle“ von Guy Peelaert und der „Barbarella“-Comic von Jean-Claude Forest. Von Krigstein hat er vor einigen Jahren in den USA auch mehrere Originalseiten ersteigert.

Zudem begeisterten ihn Comics aus China, dem sich Neuhaus als Mitglied einer linken Studentenvereinigung eine Zeitlang auch politisch verbunden fühlte. Daraus erwuchs eine große ästhetische Begeisterung für die fernöstlichen Formen der Bilderzählung. An Arbeiten von Chinesen wie dem Zeichner He Youzhi, den er erstmals auf dem Internationalen Comic-Salon Erlangen traf, mochte er besonders deren Umgang mit Weißflächen, um ein Raumgefühl zu erzeugen.

Kunstunterricht mit Donald Duck und Leporellos

Als Kunstlehrer am Leonardo-da-Vinci-Gymnasium in Neukölln nutzte er dann immer wieder die Möglichkeiten des Comics im Unterricht: Von Semesterarbeiten, die von Donald-Duck-Comics inspiriert waren – und die er dem legendären Duck-Zeichner Carl Barks bei einem Deutschland-Besuch persönlich zeigen konnte – bis hin zu ausgefeilten, eher an Avantgarde-Kunst erinnernden Leporellos, auf denen seine Schüler:innen fortlaufende Bildgeschichten als Gemeinschaftsarbeiten schufen.

Stefan Neuhaus 2017 im Deutschen Pavillon beim Toronto Comic Arts Festival.Foto: Lars von Törne

In seiner Comicsammlung finden sich viele Arbeiten aus dem Grenzbereich zwischen Comic und Bildender Kunst, der ihn besonders interessierte: Seltene Kunstbücher des New Yorker Malers und Illustrators David Sandlin, die er in Pariser Antiquariaten aufgestöbert hatte, Comic-Experimente der französischen Künstlergruppe Oubapo oder Leporellos, die namhafte Künstler:innen aus mehreren Ländern für das Schweizer Bül-Box-Projekt geschaffen haben.

Als Vorsitzender des Fachverbandes für Kunstpädagogik (BDK Berlin) organisierte Stefan Neuhaus zahlreiche Fortbildungsveranstaltungen, um Lehrer:innen unterschiedlicher Fachrichtungen zu vermitteln, wie vielfältig sich Comics in Fächern wie Kunst und Deutsch, Geschichte und im Fremdsprachenunterricht einsetzen lassen. Eine solche Tagung führte er 2011 zusammen mit dem Historiker René Mounajed und dem Autor dieses Artikels im Tagesspiegel-Haus durch, sie wurde von mehr als 100 Lehrer:innen besucht, die sehr positiv auf die Anregungen reagierten.

Auf Bitten seines Schulleiters arbeitete Stefan Neuhaus fast bis zum 66. Lebensjahr am Leonardo-da-Vinci-Gymnasium, wo er auch als Studiendirektor die Abteilung musische Fächer leitete.

Berlin als Vorbild in Sachen Comicförderung

Nach dem Ende seiner Berufstätigkeit vor knapp zehn Jahren wurde der von ihm 2014 mitgegründete Deutsche Comicverein zum zentralen Forum von Stefan Neuhaus, um dem Comic hierzulande zu mehr Anerkennung zu verhelfen. Zuvor hatte er 2013 zusammen mit zahlreichen anderen Akteur:innen aus der Szene das Berliner Comic-Manifest erarbeitet und mit unterzeichnet, das eine Stärkung der deutschen Comickultur durch mehr Förderung und stärkere Institutionen forderte.

Im Berliner Abgeordnetenhaus: Stefan Neuhaus und Marc Seestaedt (Comicinvasion) 2016 im Kulturausschuss.Foto: Lars von Törne

Mit dem Comicverein haben Stefan Neuhaus und seine Mitstreiter:innen in den vergangenen Jahren viel erreicht. Unter anderem haben sie den Berliner Senat durch beharrliches Drängen dazu bewegt, das mit inzwischen insgesamt 63.000 Euro bestdotierte Comicstipendium des Landes aufzulegen, das zum Vorbild für andere Bundesländer wurde.

Und sie haben den deutschen Comic auf zahlreichen Messen und Fachveranstaltungen rund um die Welt vertreten – von regelmäßigen Standpräsentationen mit wechselnden deutschen Künstler:innen beim Festival International de la Bande Dessinée d’Angoulême, Europas größtem Comicfestival, bis hin zum Deutschen Pavillon auf dem Toronto Comic Arts Festival, den der Autor dieses Textes 2017 zusammen mit Stefan Neuhaus und dem zweiten Vorsitzenden des Comicvereins, Axel Halling, sowie mit Unterstützung des Internationalen Comic-Salons Erlangen organisiert hat.

Stefan Neuhaus im Mai 2022 mit Andreas Platthaus (FAZ) bei der Fachtagung Comicexpansion.Foto: Merit Neuhaus

„Es war uns allen eine Ehre und große Freude, mit Stefan für die Interessen des Comics und der Comickünstler:innen zu arbeiten“, erklärte Axel Halling jetzt. „Für sein Engagement, sein Wissen und seine Freundschaft sind wir ihm ewig dankbar. Er hat bis zuletzt für den Comic gelebt und gekämpft.“

Die Lücke, die Stefan Neuhaus hinterlasse, sei Verpflichtung und Ansporn zugleich, sagt Halling – und zitiert in Erinnerung an Stefan Neuhaus‘ erste Comicerfahrungen eine bekannte, von der einstigen Chefredakteurin der Zeitschrift „Micky Maus“, Erika Fuchs, übersetzte Passage aus einem Donald-Duck-Comic von Carl Barks: „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns waschen und Gefahr.“