Tumult am Pult
Als Patin des Abends berührt die Schauspielerin Meike Droste gleich zu Beginn ihrer Begrüßungsworte einen wunden Punkt: Warum haben wir im Deutschen keine adäquate Entsprechung für den Begriff People of Colour? Im „Chineke! Junior Orchestra“, das beim Young Euro Classic-Festival im Konzerthaus auftritt, spielen nämlich nur nichtweiße Nachwuchstalente. 2015 in London gegründet, parallel zu einem Klassikprofi-Ensemble, soll es Musiker:innen of Colour eine Plattform geben.
Meike Droste, Ensemblemitglied am Deutschen Theater Berlin und bekannt aus der TV-Serie „Mord mit Aussicht“, findet es gut, wenn sich unterrepräsentierte Gruppen Sichtbarkeit verschaffen. Aber sie hätte eben gerne einen Ausdruck, um das auch in ihrer Muttersprache loben zu können. Doch die 11- bis 22-Jährigen Chineke-Junioren müssen am Donnerstag für sich selbst sprechen, in Tönen nämlich – und mit Hilfe ihrer Dirigentin Glass Marcano. Die Venezolanerin wurde musikalisch im berühmten Educationprogramm „El Sistema“ sozialisiert, bevor sie sich entschied, in Paris Orchesterleitung zu studieren.
Ein rhythmisch kniffliges Stück von Stewart Goodyear
Los geht es mit der „Othello“-Suite von Samuel Coleridge-Taylor aus dem Jahr 1909. Der Brite, dessen Vater aus Sierra Leone stammte, schrieb Hochglanz-Romantik, die die Chineke-Musiker:innen mit kräftigen Klangfarben zum Leuchten bringen. Bei Stewart Goodyears „Callaloo“ geht es dann vor allem um Rhythmen. Der 1978 geborene kanadische Komponist – seine Mutter wurde in Trinidad geboren, sein Vater in Großbritannien – hat sich vom Stilmix der Karibik inspirieren lassen. Das ist knifflig fürs Orchester und stellt hochvirtuose Ansprüche an den Solo-Pianisten Gerard Aimontche.
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Nach der Pause folgt dann eine Annäherung an Tschaikowskys 4. Sinfonie. Glass Marcano hält den Laden zusammen, man sieht an ihrer suggestiven Körpersprache, ihren fließenden Dirigierbewegungen, wie die Musik durch sie hindurch strömt – und doch kommt es in den Tutti-Passagen immer wieder zum Tumult. Die Bläser übertönen die Streicher, Strukturen verschwimmen, es knallt, blitzt und dampft. Jeder und jeder auf der Bühne ist mit maximalem Engagement dabei – heraus kommt dennoch nur die Rohfassung einer Interpretation.
Das macht trotzdem Spaß, wegen der enormen positiven Power der Truppe – und zeigt zugleich, was Spitzenorchester alles leisten an Detailarbeit, Nuancierungskunst und atmosphärischer Dramaturgie. Weil es mehr braucht als die richtigen Noten, um ganz große Kunst zu ermöglichen. Mit dem hier neu geschärften Bewusstsein wird man den nächsten Besuch bei den Berliner Philharmoniker ganz neu, ganz anders wertschätzen können.