Gruppentherapie mit dem Kozak System

26. Juli 2022
Auch nach 25 Jahren bin ich mir nicht sicher, was Aktus ist – ein Kaktus ohne K vielleicht? Manche Bands mögen ungewöhnliche Namen, und das war so einer. Mit den Jungs von Aktus saß ich einmal bis in die Morgenstunden im Backstage vom Club Hafenklang an der Großen Elbstraße in Hamburg. Ich war mit meiner ersten Berliner Band da, kaum zwei Jahre nachdem ich mit meinen Eltern nach Deutschland gezogen war.

Anfang der 2000er kaufte ich mir bei einem Ukraine-Besuch das erste Album von Haydamaky, ich fand ihre Mischung aus ukrainischem Folk, harten Gitarrenriffs und Reggae/Ska- Rhythmen toll. Auf der CD-Rückseite gab es ein Bandfoto und ich stellte verwundert fest, dass ich die Musiker bereits kannte – das waren die Jungs von Aktus, sie haben sich offenbar umbenannt..

Die Band sang von Anfang an Ukrainisch

Mit ihrem Sound waren Haydamaky in den frühen 2000ern Pioniere der Neuen Ukrainischen Welle. Ich legte ihre Songs gern bei meinen Partys auf, die Band tourte oft in Europa. Dann ging ihr Sänger, und die restlichen Musiker entschieden, unter einem neuen Namen weiterzumachen.

Kozak System hatte alles, was Haydamaky ausmachte, bloß waren sie lauter, härter, schneller. Auf ihrer ersten Platte interpretierten die Jungs Motörheads „Ace Of Spades“ – nach dieser Version kann ich das Original nicht mehr hören, für mich klingt es irgendwie kraftlos. 

Von Anfang an haben sie nur auf Ukrainisch gesungen. 2015 veröffentlichten sie einen wütenden Song namens „Fuck Off Manifest“, der als Balkan-Pop Nummer begann, sich aber dann zum harten Polka-Punk-Brett entwickelte. „Fickt die slawische Bruderschaft und Freundschaft/ Fickt den gemeinsamen Glauben/ Fickt Rabatte auf Gas und andere Lügen/ Eure große Literatur/ Eure Architektur, Skulptur/ Eure Knast-Subkultur“.

Ich fand den Text zu aggressiv und habe die Musiker damals sogar angeschrieben. „Hey, ja, es ist krass, aber so geht es uns gerade,“ schrieben sie zurück, „so halten wir es für richtig“. Wenn ich das Lied jetzt, sechs Jahre später, höre, kommt es mir in fast schon sanft vor.

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Ende Februar meldete sich Ivan Lenyo von Kozak System freiwillig bei der Kiewer Streifenpolizei. Auf neuen Facebook-Bildern sah man ihn nicht mehr in bunten Bühnenklamotten, sondern in einer Uniform. Statt eines Akkordeons hatte er oft ein Gewehr in der Hand.

Und wenn die Band wieder spielte, waren es keine gewöhnlichen Konzerte – die Musiker fuhren an die Front und traten vor den Soldaten auf. Mitte Juli haben sie vom ukrainischen Kulturministerium die Erlaubnis bekommen auszureisen und befinden sich gerade auf einer Europa-Tour mit dem Ziel, Spenden für die ukrainische Armee zu sammeln.

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Auch in Berlin wurde in wenigen Tagen ein Straßenkonzert für Kozak System organisiert: Am frühen Sonntagabend versammeln sich Ukrainer*innen am Hackeschen Markt, es kommen immer mehr, aus allen Richtungen. Freunde von mir sind da, aber vor allem sind es neue Gesichter, ganz viele neue Gesichter. Die hinter mir stehende Dame flüstert ihrer Begleiterin zu: „Eigentlich ist es gar nicht meine Musik, aber ich dachte, es wäre eine gute Gelegenheit, uns wiederzusehen.“ Zwei Minuten später heulen die beiden.

Auch wenn manche die Lieder erkennen, sich darüber freuen und laut mitsingen, schwankt die Stimmung oft – von Euphorie zu tiefer Trauer. Es wird gelacht, geweint und getanzt. Wenn Ivan sich an sein Berliner Publikum wendet, sind das nicht die üblichen Ansprachen wie “Es ist schön, wieder hier zu sein” oder “Berlin, geht’s Euch gut?”.

Er erzählt, wie es den ukrainischen Kämpfern an der Front geht und lädt deutsche Russland-Fans Butscha, Irpin und Hostomel zu besuchen. Sein Ton ist manchmal scharf, er mag ein bisschen müde sein, wirkt aber trotzdem stark – und trotz allem optimistisch. Und wenn er lächelt, lächeln alle Zuschauer mit.

Auftritte ukrainischer Bands sind heute ganz anders als früher. Sie sind viel mehr als nur Konzerte und erinnern an Gruppentherapie-Treffen. Ich freue mich, es erlebt zu haben – und gleichzeitig wünsche mir und dem Publikum, es nie erlebt haben zu müssen. Nicht aus diesem Anlass.