Der verlorene Zusammenhalt

Zwei Tänzer beugen sich übereinander und halten den Kopf des anderen fest – eine verzweifelt anmutende Geste des gegenseitigen Beistands. Hektisch fuchtelt dann ein kleiner Mann in grauer Kutte mit den Armen. Mehrmals rempelt er mit voller Wucht gegen eine Gruppe hochgewachsener Tänzer, die fest beieinander stehen.

Attacken sieht man viele in „New Creation“, der neuen Produktion des brasilianischen Choreografen Bruno Beltrão, die beim Finale von Tanz im August im Haus der Berliner Festspiele zu sehen ist. Die Szenen flackern kurz auf und werden immer wieder von Blackouts unterbrochen: Schlaglichter auf eine Gesellschaft, die den Zusammenhalt verloren hat.

Bruno Beltrão hat sich einen Namen damit gemacht, dass er das Vokabular des Urban Dance mit Techniken des zeitgenössischen Tanzes verschmilzt. Die Breakdance-Codes zerlegt er diesmal fast bis zur Unkenntlichkeit. Immer wieder blitzt dabei die Virtuosität der zehn Tänzer auf. Vier von ihnen rollen sich auf die Schultern und stemmen sich in den Handstand, katapultieren sich in horizontale Verschraubungen und sausen wie Tiefflieger umeinander.

Dabei geht es Beltrão nicht ums Auftrumpfen oder ein gegenseitiges Überbieten, vielmehr fängt er die wachsenden sozialen Spannungen in grotesken Miniaturen auf.

Auf den Körpern liegt eine schwere Last, die sie nach unten drückt. Wenn die Tänzer vorwärts preschen, zieht der Oberkörper sie rückwärts, angestaute Wut entlädt sich in eruptiven Ausbrüchen. Ein sehr düsteres, aber zugleich fesselndes Stück – auch dank der fantastischen Tänzer.

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Trajal Harrell sorgt mit „The Köln Concert“ zu Musik von Keith Jarrett und Joni Mitchell für einen emotionalen Ausklang des Festivals, der letzten Ausgabe, die Virve Sutinen als künstlerische Leiterin verantwortet. Angetreten war die Finnin 2014 mit dem Ziel, die große Vielfalt des zeitgenössischen Tanzes zu zeigen. Nach den Beschränkungen von zwei Pandemiejahren konnte sie nun wieder aus dem Vollen schöpfen. Das stilistische und ästhetische Spektrum war besonders weit gefasst, auch mit aufeinander prallenden Extremen.

Die Retrospektive war diesmal Cristina Caprioli gewidmet. Ein mutige Entscheidung, denn hierzulande ist die Italienerin, die seit 1983 in Stockholm lebt, kaum bekannt. Caprioli hat eine eigene Spielart des Post Modern Dance entwickelt, der in den 1960ern in den USA entstand. Auf den ersten Blick wirken ihre Arbeiten kühl, doch bei genauerem Hinschauen man entdeckt auch einen schrägen Humor. Oft kippen die Körper in seltsame Schräglagen: Die 68-Jährige versteht den Tanz als Ausbalancieren eines wiederkehrenden Ungleichgewichts; in ihrem „Scary Solo“ erforscht sie den Zustand der Instabilität. Caprioli hatte zudem tolle Tänzer aus Schweden mitgebracht, die ihre anspruchsvollen Choreografien mit schöner Leichtigkeit darbieten.

Nächstes Jahr übernimmt Ricardo Carmona, bisher Tanz-Kurator am HAU

In der Retrospektive wurden außerdem Arbeiten von indigenen Choreograf:innen gezeigt. Eine Entdeckung ist die samische Choreografin Elle Sofe Sara aus Nord-Norwegen. „Vástádus eana – The answer is land“ ist eine betont schlichte Performance für vier Sängerinnen und drei Tänzerinnen. Die vielstimmigen Joik-Gesänge der Frauen entfalten dabei eine suggestive Kraft, die die Zuschauer in andere Sphären entrücken.

Virve Sutinen lud die globale Tanzszene einmal mehr zum Stelldichein und holte einige ihrer Favoriten wieder nach Berlin: ein anregendes, mitreißendes Festival zum Abschied der Chefin. Viele in Berlin werden die leidenschaftliche Verfechterin des Tanzes vermissen.

2023 übernimmt Ricardo Carmona, der bis Mai Kurator für Tanz und Performance am HAU war, die künstlerische Leitung des Tanz im August. Eine internationale Findungskommission wie damals bei Sutinen gab es nicht. Ein Gespräch mit HAU-Intendantin Annemie Vanackere legt nahe, dass Carmona ihr Vorschlag war – die Kulturverwaltung nickte ihn ab.

Dass sich das HAU das größte deutsche Tanzfestival damit nun einverleibt hat, wird von vielen kritisch gesehen. Denn eine gewisse Unabhängigkeit gehörte immer zur DNA des 1989 gegründeten Festivals. Sinnvoller wäre eine eigene, eigenständige Struktur. Der Coup des HAU ist ein Rückschritt, der nochmals vor Augen führt, wie wenig der Berliner Kulturpolitik am Tanz liegt.