Liebe ist eine Krankheit

Es ist eine der vielen Erkenntnisse von Marcel Prousts Erzähler am Ende der „Suche nach der verlorenen Zeit“, dass die Wege seiner Kindheit nach Mésiglisé und Guermantes nie zwei verschiedene Wege waren, sondern immer nur ein einziger.

Ähnlich verhält es sich mit Prousts Werk, von seinen ersten Schreibversuchen an, die 1896 zur Veröffentlichung von „Freuden und Tage“ führten: Alle Wege führen zur „Recherche“, eigentlich hat es immer nur einen gegeben.

So ist das auch im Fall der ganz frühen Erzählungen, die erst vor zwei Jahren im Nachlass des 2018 verstorbenen französischen Proust-Forschers Bernard de Fallois aufgetaucht sind. Unter dem Titel „Der geheimnisvolle Briefschreiber“ gibt es sie zum 150. Geburtstag von Proust auch in einer deutschen Übersetzung. (Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 174 S., 28 €.)

Die Erzählungen hatte Proust in der Zeit geschrieben, in der er an „Freuden und Tage“ saß, in den frühen und mittleren neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts.

In dieser Zeit lernte Proust den Komponisten Reynaldo Hahn kennen und lieben, verbrachte mit diesem einen Sommer auf Madame Lemaires Schloss Réveillon und widmete ihm die in „Freuden und Tage“ veröffentlichte Geschichte „Der Tod des Baldassare Sylvande“.

Proust wollte nicht als Homosexueller geoutet werden

Hahn und Proust führten eine mal heftige, mal distanzierte, immer von viel Eifersucht geprägte Beziehung. Damit einher ging Prousts Entscheidung, manche seiner Erzählungen nicht für sein Debüt zu verwenden. Er fand sie zwar offenbar auch literarisch nicht gut genug, vor allem aber behandelten sie allzu offen das Thema der Homosexualität.

Proust fürchtete, dieses Thema würde die Rezeption von „Freuden und Tage“ zu sehr bestimmen – und er wollte trotz aller Um- und Vorsicht, die er beim Schreiben walten ließ, selbst nicht als Homosexueller geoutet werden.
Was heutzutage seltsam anmutet, trotzdem immer eine primär individuelle Entscheidung ist.

Allerdings konnte Proust bei vielen Freunden und Bekannten beobachten, dass seine sexuelle Orientierung keine Tragik beinhalten musste, von Robert de Montesquieu über Jane Dieulafoy bis hin zu André Gide, mit dem er sich später viel über Homosexualität unterhalten sollte.

Gide beurteilte Prousts Quälen von Ratten, um zu einem Orgasmus zu kommen, im Hinblick auf seine Literatur: „Wie viele Adjuvanzien brauchte er doch, um zum Paroxysmus zu kommen. Doch alle dienten auf indirekte Weise seinen Büchern, dem unglaublichen, üppigen Wuchern seiner Bücher”.

“Der” Briefschreiber ist eine Frau

Doch zurück zu den frühen, jetzt erst veröffentlichten Erzählungen: Obwohl die Titelgeschichte „Der geheimnisvolle Briefschreiber“ heißt, ist es eine Frau, die hier Liebesbriefe an eine verheiratete Freundin schreibt.

Diese glaubt, die Briefe würden von einem Mann stammen: „Schon oft hatte sie sich gefragt, wer er wohl sein mochte, und jetzt malte sie sich aus, dass es ein Soldat sei.“

Oder in der Erzählung „In der Hölle“, in einem Dialog über Homosexualität: „Die Frau wird in Gomorrha, der Mann in Sodom herrschen. Und von Weitem sich einen gereizten Blick zuwerfend, werden die beiden Geschlechter je auf ihrer Seite sterben.“

Auch in der „Erinnerung eines Hauptmanns“ geht es um die gegenseitige Sympathie zweier Männer, ohne dass diese explizit zur Sprache kommt: „Im leidenschaftlichen Wunsch (warum?), von ihm angesehen zu werden, klemmte ich mein Monokel ein und tat so, als sähe ich mich um, bemüht, nicht in seine Richtung zu blicken.“

Bis auf die letztere Geschichte, „Erinnerung eines Hauptmanns“, die 1952 veröffentlicht wurde, nachdem Bernard de Fallois sie abgeschrieben hatte (und die schon in dem Band „Nachgelassenes und Wiedergefundes“ Eingang gefunden hat), lagerten die acht anderen Erzählungen in de Fallois’ riesigem Archiv.

Viele Anklänge an die “Recherche”

Bernard de Fallois war der Proust-Forscher, der, nachdem er Prousts Nichte kennengelernt hatte, in den fünfziger Jahren schon den frühen Romanversuch „Jean Santeuil“ und den Romanessay „Gegen Saint-Beuve“ entdeckt und der Literaturwelt erschlossen hatte.
So wie bei diesen Veröffentlichungen, die auf das verweisen, was noch kommen sollte, verhält es sich mit „Der geheimnisvolle Briefschreiber“ und den anderen, oft gar nicht fertig gestellten Erzählungen.

So schreibt es der Straßburger Literaturprofessor und Proust-Experte Luc Fraisse in seiner instruktiven Einführung: „Wir sehen hier den Schriftsteller in dem Moment, da sein literarisches Unternehmen, das nach und nach an Form gewinnt bis zur ,Recherche’, seinen Anfang nimmt.“

Tatsächlich finden sich allein atmosphärisch und in den von Proust gewählten Settings viele Anklänge an die Welt der „Recherche“, an Combray und Paris, an die Welt der Guermantes und der Salons, in der sich Prousts späteres Erzähler-Ich herumtreibt.

Man denke nur an die – in diesem Fall weibliche – „geheimnisvolle Briefschreiberin“, die dem Erzähler im sechsten Band der „Recherche“, „Die Entflohene“, ein Telegramm schickt, als er in Venedig ist, „unterzeichnet mit Albertine, die doch tot ist“.

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Oder an eben jenen Hauptmann, der in eine kleine Stadt zurückkehrt, wo er ein Jahr stationiert war, und sich in einen Soldaten niederen Ranges verguckt. Zu Beginn sagt er, dass er in jener Stadt alles wiedersehen wollte, „die Orte, an die ohne einen großen Schauder der Traurigkeit zurückzudenken die Liebe mir unmöglich gemacht hat, und die an sich so schlichten Orte wie die Mauern der Kaserne und unser Gärtchen, deren einziger Schmuck die Reize waren, die ihnen das Licht je nach Tageszeit und Laune von Wetter und Saison verleiht.“

Oder, ein letztes Beispiel, wieder „In der Hölle“, als es darum geht, dass die Liebe eine Krankheit sei, eines der Hauptthemen der „Recherche“. Da heißt es, dass auch die Dichter psychisch nicht ganz beieinander sein können, womit Äußerungen des Doktor du Boulbon schon einmal gewissermaßen vorvariiert werden: „Die Ärzte behaupten also mit einigermaßen guten Gründen, dass die Dichter krank sind, Verrückte. Sei´s drum. Immerhin eine glückselige Krankheit, göttlicher Wahnsinn, wie die Mystiker sagen.“

Die Kunst hat erlösenden Charakter

Die gesamte „Recherche“ wird ja bevölkert von Figuren mit instabilen geschlechtlichen Identitäten, sei es Saint-Loup, sei es Albertine oder Andrée, sei es am Ende gar der Prinz de Guermantes. Nicht zuletzt beruht die größte Liebe des Erzähler-Ichs in der „Recherche“, Albertine, auf Zügen von Prousts zeitweiligen Chauffeur Alfred Agostinelli, der 1914 bei einem Flugunfall in Südfrankreich ums Leben kam.

Doch am Ende, so ist es immer bei Proust, steht die Kunst in all ihrer Größe. Sie hat erlösenden Charakter. All das zeigt sich in diesen Erzählungen schon andeutungsweise. Die Kunst, so schreibt es Fraisse, weite den „Blickwinkel des Leidens und des Verfluchtseins“; hier ganz speziell vor dem Hintergrund der Homosexualität und den Schwierigkeiten, die Proust hatte, sich offen dazu zu bekennen.

Natürlich ist „Der geheimnisvolle Briefschreiber“ für sich genommen eine schwierige, nicht wirklich befriedigende Lektüre. Der Band eignet sich kaum dazu, Proust-Erstleser:innen zu gewinnen. Er erschließt sich erst mit der Kenntnis des Nachfolgenden und den Erläuterungen und Anmerkungen durch Luc Fraisse.

Abenteuerliche Wiederentdeckungen

Trotzdem ist es erstaunlich, was sich in den Proust-Archiven unablässig anfindet, was da für Puzzle-Teile nach und nach ans Licht der Öffentlichkeit kommen. Dabei war Bernard de Fallois sich mit Proust und dessen „Contre-Saint-Beuve” nur zu bewusst, wie wenig sich mittels eines Lebens, einer Biografie das Werk eines Schriftstellers entschlüsseln lässt. Zumal das Leben Prousts von 1908 an, da er mit der „Recherche“ begann und kaum noch ausging, immer eintöniger wurde und sich mehr und mehr auf die Korrespondenzen beschränkte.

Aber allein die Entdeckungen und Wiederentdeckungen aus Prousts Schreibbergwerk sind abenteuerlich genug. Man denke an die Erzählung „Der Gleichgültige“, die 1978 veröffentlicht wurde, nachdem der Herausgeber des Briefwechsels von Proust, Philip Kolb, auf ihren ersten Abdruck in einer Zeitschrift aus dem 19. Jahrhundert hingewiesen worden war.

Auch die Geschichte von Fallois und seinen lebenslangen Proust-Forschungen sind einen eigenen Roman wert. Man braucht kein Prophet zu sein, um sehen zu können, dass „Der geheimnisvolle Briefschreiber“ nicht das Ende der Ausgrabungen und Abtragungen ist, gerade aus dem Fundus von Fallois.

Und trotzdem: Es gibt nur einen Weg, um sich Proust zu erschließen, und das ist die Lektüre der sieben Bände von “Auf der Suche nach der verlorenen Zeit”.