Luther vorneweg

Lea Rosh sagt es an diesem Donnerstagabend im Jüdischen Gemeindezentrum in der Fasanenstraße bei ihrer Begrüßung in aller Deutlichkeit: „Antisemitismus tötet“. Und: „Er ist da. Er war nie weg“. Und er nimmt zu in Deutschland, allein 2020 gab es knapp 2400 antisemitische Straftaten, dreißig Prozent mehr als 2018.

Deshalb hat Rosh als Vorsitzende des Förderkreis Denkmal für die ermordeten Juden Europas mit der Jüdischen Gemeinde und der Moses-Mendelsohn-Stiftung eine Vortragsreihe initiiert, die aufklären soll über die verschiedenen Formen des Antisemitismus: über den rechtsextremen Antisemitismus oder den kommunistisch-linken, den islamischen wie den der modernen Medien. Den Auftakt der Reihe macht an diesem Abend der christliche Antisemitismus, wenn man so will eine der Wurzeln des Übels, die sich nicht zuletzt im Neuen Testament findet.

Der Historiker und Mendelsohn-Stiftungs-Vorsitzende Julius H. Schoeps spricht über die „Macht der Bilder“ und setzt an bei den mittelalterlichen „Judensau“-Skulpturen und -Abbildungen

Diese gibt es noch heute in mindestens 30 Kirchen, Kathedralen und Dombauten in Deutschland. Sie hätten „durch die Jahrhunderte das Fühlen und Denken und somit das Bewusstsein der Bevölkerung nachhaltig geprägt“, sagt Schoeps.

Der Antisemitismus von Martin Luther bis zu den Nazis

Und reiht dann Beispiel an Beispiel, von den Holzschnitten mit Juden, die rücklings auf einem Schwein reiten, über Sprüche wie „Saug du die Milch, fris deu den treck/Das ist doch euer best Geschleck“ bis hin zu Abbildungen, auf denen Juden mit einer Zipfelmütze auf dem Kopf an den Zitzen einer Sau saugen.

Suggeriert werde, „dass Juden artverwandt mit Schweinen seien“. Nachdenklich stimme, so Schoep weiter, „dass die verhöhnenden Schimpfwörter ,Judensau‘ oder ,Judenschwein‘ sich mit den Jahrhunderten mehr oder weniger verselbstständigt haben und gar nicht mehr der Existenz des authentischen Juden bedürfen. Sie sind zu freischwebenden vorurteilsgeladenen Etikettierungen geworden, die sich gegen jedermann richten können.“

Vielleicht benutzt Schoeps, der ein großartiger Redner ist, eben jene Schimpfworte doch eine Idee zu oft bei seinem ansonsten inspirierenden Vortrag; der Bogen, den er dann vom Mittelalter in die ferne und nicht so fern liegende Vergangenheit und auch die Gegenwart schlägt, ist straff gespannt mit frappanten Beispielen.

[Behalten Sie den Überblick über die Entwicklung in Ihrem Berliner Kiez. In unseren Tagesspiegel-Bezirksnewslettern berichten wir über Ihre Nachbarschaft. Kostenlos und kompakt: leute.tagesspiegel.de.]

Da sind die Nationalsozialisten und die Kirchenmänner, die ihnen folgten, zum Beispiel der thüringische Landesbischof Martin Sasse, der wie viele Nazis Luther und seine Lehren in Anspruch nahm; da sind die Demonstranten auf den Straßen in deutschen Städten, die zuletzt bei den Anti-Israel-Demos während des jüngsten Gaza-Kriegs „Kindermörder Israel“ riefen oder abermals die Assoziationen zu den Nutztieren herstellten.

Und da war eben jener doch notorische Antisemit, der Reformator Martin Luther. Oder auch der Mainzer Erzbischof Rabanus Maurus, der im 9. Jahrhundert die Verbindung der Juden zu den Schweinen zog. „Die christliche Welt empfand die Existenz von Juden als eine Belästigung“, schlussfolgert Schoeps, „als etwas Unerträgliches. Gleichgültig, um was für ein Unglück es sich handelte, verantwortlich wurden immer nur die Juden gemacht.“

Soll man die judenfeindlichen Stellen im Neuen Testament streichen?

Es ist schade, dass Schoeps den Antijudaismus im Neuen Testament nur kurz streift, die Bilder des oder der Juden als „Satan“ oder „Schlangen- und Natternbrut“, die Stereotypen, die sich im Christentum festgesetzt haben. Wie ist es hier um die Psyche einer Religion bestellt, die sich solcherart von einer anderen, viel länger existierenden abzugrenzen meint? Andererseits hätte das wohl den Rahmen eines einzigen Vortrags gesprengt.

Aber wie diese Bilder aus den Köpfen bekommen? Auch die Klischeebilder, mit der Zeitschriften Texte über das moderne Judentum versehen?

Schoeps weitet sein Thema, indem er auf die Problematik der nachträglichen Veränderung etwa von Kinderbüchern zu sprechen kommt, auf rassistische Bezeichnungen, auf den subtilen Antisemitismus eines Wilhelm Busch zum Beispiel. Und: „Der Gedanke liegt nicht fern, auch die Entfernung judenfeindlicher Stellen und Aussagen im Neuen Testament zu fordern“.

Allerdings spricht Schoeps sich gegen die Entfernung von judenfeindlichen Skulpturen aus. Man erinnert sich vielleicht an das „Judensau“-Relief an der Fassade der Stadtkirche Wittenberg, dessen Beseitigung das Oberlandesgericht Naumburg nach einer Klage der Jüdischen Gemeinde in zweiter Instanz zurückwies.

Es solle nicht Aufgabe der Gerichte sein, so Schoeps, „sich mit strittigen Fragen der Gedenkkultur zu befassen“. Stattdessen plädiert er für historische Kontextualisierungen, für Aufklärung und noch mehr Aufklärung, trotz all der Wirkmacht, die Bilder nun einmal haben:  „Wir müssen (…) auf die Widersinnigkeit dieser Bilder hinweisen, denn wir haben keine andere Wahl“.(Am Montag, 5. 7., 19 Uhr, spricht u. a. Oliver Decker von der Universität Leipzig über „Rassismus und Antisemitismus“: am Mo, 23. 8., 19 Uhr, Richard Herzinger über kommunistischen und linken Antisemitismus.)