Sternstunde der Verachtung
Vernon Subutex hat zugesehen, wie alles den Bach runterging. Erst war es wie in Zeitlupe, dann legte der Absturz an Tempo zu. Der Plattenladen „Revolver“, den er 20 Jahre in Paris hatte, musste schließen. Irgendein anderer Job kam nicht infrage, also wurde ihm bald die Stütze gestrichen. Ringsherum starben die alten Freunde, Krebs der eine, Autounfall der andere.
Und schließlich meldeten die Nachrichten den Tod von Alex Bleach, dem Schnulzensänger/Rockstar, den Vernon aus alten Tagen kannte und der ihm die Miete bezahlte. Jetzt ist auch die Wohnung weg. Vernon steht auf der Straße, mehr ungläubig als verzweifelt. Wie konnte das passieren – sich in einer Geisterwelt wiederzufinden, die keinen Platz für ihn hat?
„Ab einem bestimmten Alter trennt man sich nicht mehr von seinen Toten, da bleibt man in ihrer Zeit“, heißt es einmal in dem Roman „Das Leben des Vernon Subutex 1“ der französischen Autorin Virginie Despentes, von der auch die Hitbücher „Baise-moi“ und „King Kong Theorie“ stammen. Despentes schickt hier einen Helden durch den Auftakt einer Trilogie, der gedacht hat, er könnte bequem sitzen bleiben, während sich um ihn herum der Irrsinn der Wirklichkeit beschleunigt und Höllenfahrt aufnimmt.
Einfach angejahrten Rock’n’Roll für weiße Männer mittleren Alters leben, nostalgisch übers Vinyl streichen, ab und zu Drogen, öfter mal Sex. Ein Plan B war in diesem Szenario nie vorgesehen.
Joachim Meyerhoff spielt Vernon Subutex in Thomas Ostermeiers Virginie-Despentes-Inszenierung als grundliebenswerten Slacker mit langen Haaren und Brille, der ambitionslos in den Überlebenskampf geworfen wird und verwundert erkennt: „Entweder du hast dich geirrt, als du mit 20 Slayer gehört hast, oder du irrst dich jetzt in deinem Leben“.
Ursprünglich hätte die Produktion im Frühjahr 2020 zur Premiere kommen sollen. Die große Kulturöffnungswelle lässt endlich die Aufführung vor Schachbrettmusterbespielung zu. Gefühlt hat man auf diesen „Subutex“ so lange gewartet wie damals auf das Guns’n’Roses-Album „Chinese Democracy“, mit einem entscheidenden Unterschied: die Platte war letztendlich Müll, an der Schaubühne ist ein großartiger Abend zu sehen. Eine über vierstündige Odyssee ins Herz der Finsternis einer Gesellschaft, die an allen Ecken und Enden zu erodieren beginnt.
Die Jagd nach Videokassetten
Auf der Drehbühne von Nina Wetzel, die aus Galerie, Wendeltreppe, Videoleinwand, Fernsehertürmen, Bar, wechselndem Wohnambiente und kreisendem Neon-Revolver zusammengebaut ist, gibt eine Band den Sound vor mit dem American Traditional „Another Man Done Gone“.
Henri Maximilian Jakobs, Ruth Rosenfeld, Taylor Savvy und Thomas Witte arbeiten sich nicht nur mit Verve durch die Playlist aus Punk- und Rockklassikern (The Cramps, Johnny Cash, Gang of Four), sie spielen teils auch Rollen aus dem „Pulp- Fiction“-mäßig verschränkten Figurenkosmos der Despentes.
Die lässt ihren Vernon als wohnungslosen Couchsurfer eine Reise in die Vergangenheit antreten, zu Weggefährt:innen aus alten Tagen, die sich in fragilen Leben einzurichten versuchen: wie Emily (Julia Schubert), Ex-Punk, heute Staatsdienst, in den Augen ihrer Eltern mit dem Makel der Kinderlosigkeit behaftet. Oder die überspannte Sylvie (Stephanie Eidt), Ex-Junkie, die sich nur am Dissens ihrer Freundinnen aufrichten kann.
Subutex trifft Xavier (Holger Bülow), einen erfolglosen Autor mit reicher Frau, der sich mit rassistischen Ressentiments aufpumpt und gegen Kopftuchträger:innen genau so austeilt wie gegen den Kulturbetrieb.
Einen ähnlichen Rant zelebriert Bastian Reiber als Börsengewinnler, der seinen Ekel über die Armen auf die Rampe rotzt. Sternstunden der Verachtung, aus denen nichts als Wahrheit über die gesellschaftlichen Verhältnisse strahlt.
Es gibt in dieser Welt die Abgehängten, wie den kränkelnden Lederwesten-Träger Patrice (Thomas Bading). Und die Stromschwimmer, die für ihr Fortkommen wahlweise Träume oder Menschlichkeit hinter sich lassen.
Darum geht es im Kern, auch wenn Despentes ihre Geschichte über einen Plottwist – die Jagd nach Videokassetten, die der verstorbene Alex Bleach Vernon hinterlassen hat – noch in ganz andere Welten führt. Von einer verstorbenen Pornodarstellerin und ihrer muslimischen Tochter Aïcha (Hêvîn Tekin) wird da erzählt, von Menschen mit fluiden Genderidentitäten wie Marcia (Mano Thiravong).
Über die Bildschirme laufen die Filme von Videokünstler Sébastien Dupouey, die oft grellstichig ein Paris der Prostitution und Obdachlosigkeit, der Luxusboutiquen und Ratten zeigen (nächste Vorstellungen: 9. bis 13.6., 15. bis 20.6., weitere im August).
Nicht als Kontraste, sondern als notwendige Bedingungen eines hysterischen Systems, in dem Existenzen in bröckelnden Bunkern gebaut werden. Dieser Essenz gibt Ostermeier mit einem starken Ensemble Raum. Joachim Meyerhoff sitzt am Ende auf einer Pappe und schaut auf sich selbst aus der Vogelperspektive: als einer unter Millionen, „ein Penner mitten in Paris“.