Alhierd Bacharevič und seine Rede zur Leipziger Buchmesse : Das Messer im Herzen

Rituale sind ein Teil der Politik, und die Bekenntnisse zur Bedeutung der Literatur, die alljährlich zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse im Gewandhaus wie ein Vaterunser heruntergebetet werden, sind sicher keine Lüge. Über die Selbstberuhigung einer Gemeinschaft, die den Glauben an die Erkenntnis stiftende Kraft des tiefen Lesens längst verloren hat, gelangen sie jedoch nicht hinaus.

Die Blitze, die Oberbürgermeister Burkhard Jung mit seiner Erinnerung an Paul Auster in Richtung des Weißen Hauses schleudert, bleiben ein Tischfeuerwerk. Und die aus nichts als Formeln bestehende Emphase, mit der Kulturstaatsministerin Claudia Roth das demokratische Gemeinwesen beschwört, klingt nicht danach, als hätte sie auch nur ein einziges der von ihr in Bezug auf das Gastland Norwegen erwähnten Bücher gelesen.

Börsenvereinsvorsteherin Karin Schmidt-Friderichs bei der Eröffnungsrede.

© dpa/Hendrik Schmidt

Soll es tröstlich sein, dass die AfD bei der Bundestagswahl im Freistaat Sachsen nur knapp 40 Prozent erreichte? Geht es Deutschland noch gold, weil der Zensurhammer, den Donald Trump gerade in den USA herausholt, hierzulande noch ausgeblieben ist?

Die brechende Stimme, mit der Börsenvereinsvorsteherin Karin Schmidt-Friderichs darauf hinweist, dass ein freier Gewandhaussitz dem in Algerien vor Gericht stehenden Friedenspreisträger Boualem Sansal gewidmet sei, hat immerhin noch das Zeug zur Rührung.

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Die große europäische Romankunst ist heute bedroht.

Alhierd Bacharevič

Wenn dann aber der Himmel der grauen Worte aufreißt und aus berufenem Munde tatsächlich etwas von der Kraft der Literatur zum Vorschein kommt, erhält das Zeremonielle seinen Sinn zurück.

Mit der Wahl des im Berliner Exil lebenden Belarussen Alhierd Bacharevič zum Preisträger des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung wird ein Schriftsteller ausgezeichnet, der sich als Gegner des brutalen Regimes von Alexander Lukaschenko wie als sprachmächtiger Erzähler profiliert hat.

Kampf an zwei Fronten

Sowohl die treffende Würdigung seines Romans „Europas Hunde“ durch die Laudatorin Sieglinde Geisel als auch seine eigene Dankesrede sind Zeugnisse eines Denkens, das diese doppelte Leistung in ihrer Ambivalenz reflektiert. Es geht ihm um ein Schreiben, das „auch im Exil versucht, mehr zu sein als eine düstere Anklage oder ein dokumentarisches Zeugnis“. Mit seiner Verteidigung der Fiktion und der Attacke auf ein rein informationelles Schreiben kämpft Bacharevič an zwei Fronten.

Der politische Gegner ist dabei klarer definiert als der kulturelle. „Die große europäische Romankunst ist heute bedroht“, konstatiert er. „Komplexität und Polyphonie, Tiefe und Experiment, Sprache und Geheimnis, die innere Zeit des Romans und seine psychologische Kraft – der moderne Mensch hat immer weniger Lust darauf. Er verlernt langsam zu lesen.“ Und so teilt er auch mit Schriftstellern, die keine unmittelbare politische Verfolgung fürchten müssen, eine schleichende Marginalisierung.

Sein Plädoyer gilt dem Innehalten im unendlichen Newsfeed, und obwohl man über Bacharevičs Behauptung „Nur als Nachrichtenleser sind wir alle gleich“ streiten kann, erhebt er zu Recht darauf Anspruch, dass jeder große Roman im Einzelnen andere Resonanzen hervorruft. Sein Widerstand gilt dabei einer in Europa von Neuem erstarkenden Utopie politischer, nationaler und historischer Art.