Niemand will etwas gewusst haben
Von der Uniform erzählen sie, die sie einst getragen haben. Dass sie gut aussah und sie stolz auf sie waren. Oft war es am Anfang eine braune, von der Hitler-Jugend. Später kam dann die schwarze der SS. Auf der Mütze prangte ein Totenkopf. Alle Glocken hätten geläutet, als Hitler 1933 an die Macht kam, sagt einer. Und sie erinnern sich noch an Knittelverse, die zum Mord aufriefen: „Schärft die langen Messer am Bürgersteig / Damit sie besser gehen in den Judenleib herein.“
„Final Account“ von Luke Holland ist ein erstaunlicher, oft erschütternder Dokumentarfilm. Der britische Regisseur hatte ab 2008 mehr als 300 Interviews mit ehemaligen SS-Angehörigen und auch einigen Zivilisten geführt. Man sieht sehr alte Männer, oft sitzen sie in ihren Wohnzimmern und berichten ungeheuerliche Dinge. Laut Holland hatten viele von ihnen nie zuvor über ihre Zeit in der SS Auskunft gegeben, nicht einmal gegenüber Angehörigen. Rund 900 000 Männer hatten zur Elitetruppe gehört, die nach dem Krieg von den Alliierten zu einer verbrecherischen Organisation erklärt wurde.
Wobei die Verbrechen in den Gesprächen vorsichtig umkreist werden, keiner gibt zu, an ihnen beteiligt gewesen zu sein. Was in der Landes-Heilanstalt in Bernburg an der Saale stattfand, erzählt einer, „war geheim, sprach sich aber rum“. Mehr als 14 000 Kranke, Behinderte und KZ-Häftlinge wurden dort in einer Gaskammer ermordet. „Omnibusse kamen, Rauch stieg auf, es roch süßlich.“ Ein anderer, der in die SS eingetreten war, weil er so dem Arbeitsdienst entging, will in Dachau bloß gesehen haben, wie Häftlinge an ihren gefesselten Armen aufgehängt wurden. Sie schrien, bis sie ohnmächtig wurden.
Der Mann gehörte zum Totenkopfregiment, das das KZ-Wachpersonal stellte. In Dachau habe er eine SS-Schule besucht, die sich neben dem Lager befand. Dann aber doch das Geständnis, dass er später dort „Aufseher“ gewesen sei. Und noch ein anderer kommt auf die Reichspogromnacht 1938 zu sprechen: „Ich hatte kein Mitleid mit den Juden.“ Ein Verbrechen? „Ich hab das nicht so empfunden.“
„Ich war für Sport und Härte“
Luke Holland, 1952 in England geboren, erfuhr erst spät, dass er aus einer jüdischen Familie stammt. Seine Großeltern mütterlicherseits wurden in Konzentrationslagern ermordet. Mit „Final Account“ unternimmt er den Versuch herauszufinden, wie es zum millionenfachen Mord kommen konnte. Landschaftsaufnahmen und historische Szenen lockern die Interviewpassagen auf. Linden mit Hakenkreuzfahnen, Schilder im Park: „Juden sind hier unerwünscht“. Holland ist 2020 gestorben, kurz nachdem sein Film fertig geworden war.
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Warum ging man zur SS? „Ich war für Sport und Härte“, lautet eine Antwort. Außerdem habe die SS die besten Waffen und die besten Panzer gehabt. Ein ehemaliger SS-Mann fragte Holland nach dem mehrstündigen Interview, ob er noch Zeit habe, er wolle ihm etwas zeigen. Sie steigen eine Treppe hoch, der Veteran holt eine Schachtel hervor, in der Orden und Auszeichnungen liegen. „Ich war dabei“, hatte „Republikaner“-Chef Franz Schönhuber seine Autobiografie genannt, in der er stolz von seiner Zeit in der SS berichtete.
(In den Berliner Kinos Hackesche Höfe, Tilsiter Lichtspiele, OmU)
Man muss genau hinhören in diesem Film, auf Zwischentöne achten, Auslassungen hinzu denken. Die Wahrheit zeigt sich indirekt, mehr oder weniger verstellt. Unter den vielen ehemaligen Tätern, die von ihren Taten nichts mehr wissen wollen, gibt es immerhin eine Ausnahme. Hans Werk bereut es, SS-Mann im Konzentrationslager Buchenwald gewesen zu sein. Das wurde für ihn zum Antrieb, Bildungsarbeit zu leisten.
Als er bei einer Diskussion im Haus der Wannseekonferenz von seiner Scham spricht, entgegnet ein junger Mann, dass er sich doch nicht dafür schämen brauche, Deutscher zu sein. Schwer zu sagen, was erschreckender ist: die Nonchalance dieses jungen Deutschen oder die Borniertheit eines Altnazis, der sagt, dass er Hitler noch immer verehre, weil seine Ideen gut gewesen seien.