Ich bin die Mama von Murat
Fast fünf Jahre war Murat Kurnaz gefangen. Der 19-jährige Türke aus Bremen hatte im November 2001 in Pakistan Koranschulen besucht, wollte seine Religion festigen, bevor seine Braut nach Deutschland kommt. Im Zuge des „Krieg gegen den Terror“ nach 9/11 wurde er jedoch gegen ein Kopfgeld den US-Streitkräften übergeben und saß als einer der ersten Gefangenen in Guantanamo, 1725 Tage lang, bis zum August 2006.
Der Fall Kurnaz ist von Skandalen begleitet, viele bis heute nicht aufgeklärt. Deutsche BND-Beamte stellten bereits 2002 beim Verhör in Guantanamo fest, dass der junge Mann nie terroristisch tätig, sondern nur „zur falschen Zeit am falschen Ort“ gewesen war. Trotzdem befürworteten die deutschen Behörden seine Rückkehr nicht, das Kanzleramt unter Leitung von Frank-Walter Steinmeier spielte dabei eine wichtige Rolle.
Spätere Untersuchungsausschüsse wurden bei der Arbeit behindert, Akten blieben verschwunden – ein Verstoß gegen das Grundgesetz, so das Bundesverfassungsgericht. Auch Bremens Innensenator Thomas Röwekamp wollte Kurnaz die Wiedereinreise verwehren: Er habe seine Aufenthaltserlaubnis wegen seines langen Auslandsaufenthalts verwirkt. Willkommen in Absurdistan.
„Es ist an der Zeit, dass die deutsche Politik ihr Versagen im Fall Kurnaz endlich eingesteht“, sagte Andreas Dresen dem Tagesspiegel, als sein Film „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ auf der Berlinale uraufgeführt wurde. Die Empörung über das Unrecht trieb ihn um. Einen Film über Guantanamo einschließlich Folter, Isolation und Ausweglosigkeit wollte er trotzdem nicht drehen, schon wegen der</SB> Schwierigkeit, die brutale Lagerrealität zu fiktionalisieren. Bisher hat dies nur Stefan Schallers Verfilmung der Kurnaz-Memoiren „5 Jahre Leben“ von 2013 versucht.
So kam Dresen auf die Mutter des Gefangenen, die unerschrockene Rabiye Kurnaz, Hausfrau und Mutter zwei weiterer Söhne. Gemeinsam mit dem Menschenrechtsanwalt Bernhard Docke kämpfte sie für die Freilassung ihres Sohnes und mischte sich in die Weltpolitik ein, bis hin zu einer Petition am Supreme Court in Washington.
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Echt jetzt? Ein Lieblingsspruch von Rabiye. So wie die Comedienne Meltem Kaptan sie spielt, mit ihrem Temperament, dem türkisch-deutschen Sprachmix, naiv, nassforsch und zäh bei allem Frust ob der jahrelangen Mühen (immer wieder wird die Zahl der Tage von Murats Gefangenschaft eingeblendet), mutiert der Politstoff zur David-gegen-Goliath-Komödie. Zum Feelgood-Movie, welches das Recht auf Zugehörigkeit türkischer Deutscher ebenso leidenschaftlich verteidigt wie die Maximen des Rechtsstaats. Im Supreme Court sitzt Dresen, seit 2012 als Laie Verfassungsrichter im Land Brandenburg, mit auf dem Richterpodium. Ein Cameo-Auftritt als Signatur.
Der Mund wird nicht süß, nur weil man vom Honig spricht, lautet eins der Rabiye-Bonmots. Aber ihre Überredungskünste haben es in sich, wenn sie sich in Dockes Kanzlei nicht abwimmeln lässt, in Ankara den türkischen Justizminister behelligt, in Washington eine ergreifende Rede hält. Geduldig erklärt Anwalt Docke (Alexander Scheer mit seltener Zurückhaltung) ihr und somit auch dem Publikum die juristischen Tücken des zwischen Deutschland, der Türkei und den USA hin und her bugsierten Falls – bis die neue Kanzlerin Angela Merkel aktiv wird. Rabiyes Unbedarftheit erfüllt gewissermaßen einen pädagogischen Zweck, ebenso wie Dockes gelegentlicher Austausch mit Staatsanwalt Stocker (Charly Hübner).
Im Zentrum des Films: die Comedienne Meltem Kaptan als temperamentvolle Rabiye
Eine unwiderstehliche Powerfrau, immer darauf bedacht, dass ihre blondes, hochgestecktes Haar richtig sitzt, im Dienst ihrer Mission als Mama von Murat: Rabiye Kurnaz, die die Journaille schurigelt, als sie die Schneeglöckchen vorm Reihenhaus zertrampelt, die das Laufband im Sportstudio auf die höchste Stufe stellt und mit hochgetuntem Technosound im weißen Mercedes-Roadster durch Bremens Innenstadt düst (ihr Mann arbeitet bei Mercedes) – wer mag sie nicht?
[Andreas Dresens Film ist ab Donnerstag in 13 Berliner Kinos zu sehen.]
Einmal mehr legen Dresen und Drehbuch-Autorin Laila Stieler, die wie Kaptan einen Berlinale-Bären gewann, den menschlichen Kern eines brisanten Sujets frei. Ähnlich näherten sie sich in „Gundermann“ dem Stasi-Thema oder in „Wolke 9“ der Altersdiskriminierung.
Bei allem Humor, aller Kurzweil und Herzenswärme fragt sich allerdings, warum Dresen über 15 Jahre nach den Ereignissen die von ihm in Interviews unmissverständlich kritisierten deutschen Politiker im Film weitgehend schont und die Mitverantwortlichen diskret verschweigt, mit Ausnahme Röwekamps. So entpolitisiert er den Politskandal zugunsten des human touch – woran auch die Informationen im Abspann nichts ändern. Der Name Frank-Walter Steinmeier fällt in „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ kein einziges Mal.