Viele Töne und eine leere Mitte

Unvollendete Kunstwerke nähren seit jeher romantische Mythen und regen an zum Spekulieren darüber, wie es wohl weitergegangen wäre. In Beethovens Geburtsstadt Bonn kam vor dem Beethoven-Jahr 2020 der dort ansässige Telekom-Konzern auf die Idee, die dürren Skizzen, die der Komponist von seiner 10. Sinfonie hinterließ, mittels künstlicher Intelligenz zu vollenden.

Eine ähnliche Idee hatte 2019 der chinesische Mobilfunk-Konzern Huawei mit der „Unvollendeten“ von Schubert. Die pompös inszenierte Uraufführung ging damals in London gründlich in die Hose, denn die KI hatte unter Mitwirkung eines Filmmusik-Komponisten mit heißer Nadel eine Tonspur gestrickt, die sich bestenfalls als Soundtrack eines Feel-Good-Movies eignete.

Von diesem ästhetischen Desaster hat man in Bonn offenbar nichts gehört, außerdem sichert man sich beim Bonner Experiment mit hoch seriöser wissenschaftlicher Begleitung ab: Federführend ist Matthias Röder, Leiter des Karajan-Instituts und Managing Partner von „The Mindshift“, einer Institution, die neue Möglichkeiten an der Schnittstelle von Musik, Kunst und Technologie zu erkunden versucht.

Röder versammelte ein Team von Programmierern, Musikinformatikern, Computerwissenschaftlern, Komponisten, Arrangeuren und Musikwissenschaftlern und startete einen zweiphasigen Arbeitsprozess, bevor die Musiker des Bonner Beethoven Orchesters und ihr GMD Dirk Kaftan mit ins Spiel kamen.

“Weltmarke Beethoven”

In der ersten Phase wurde die KI gefüttert mit den vorhandenen Skizzen, ausgewählten Passagen aus Beethovens Werk und Musik von Zeitgenossen Beethovens, maschinenlesbar aufbereitet. So „erlernten“ Algorithmen aus der Sprachverarbeitung Note für Note die „Methode Beethoven“.

In der zweiten Phase sollte die KI kreativ weiterdenken und spuckte Hunderte Versionen eines jeden Partikels aus. Dann kam der Mensch ins Spiel: Komponist Walter Werzowa traf eine Auswahl und fütterte mit dieser erneut die KI, die abermals neue Vorschläge errechnete. So ging es munter hin und her, bevor die Ergebnisse dem Orchester auf die Pulte gestellt wurden.

„Die ersten Versuche waren, sagen wir mal vorsichtig, noch sehr auf dem Weg“, sagt Dirigent Dirk Kaftan diplomatisch. Im Dialog mit Kaftan und dem Orchester entstanden aus der zunächst „unspielbaren“ Partitur ein dritter und vierter Satz, die nun im Bonner Telekom Forum zur Uraufführung kamen.

Vor dem grell leuchtenden Hintergrund in der Konzern-Farbe Magenta sitzt das Orchester, Moderator Axel Brüggemann heizt das prominent besetzte Auditorium – u. a. Ex-Kanzler Gerhard Schröder – routiniert ein, und Konzern-Chef Tim Höttges spricht von der „Weltmarke Beethoven“.

[Wenn Sie alle aktuellen Nachrichten live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Dann geht es los: Kaftan und das Beethoven Orchester spielen beherzt auf. In gemäßigtem Tempo reihen sich Motive und musikalische Gesten aneinander, die – korrekt à la Beethoven instrumentiert – vertraut klingen. Zumal das Kopfmotiv der Fünften, das berühmte „ta ta ta taaa“ überdeutlich zitiert und penetrant wiederholt wird. Weitere Zitate retten den Satz über die Zeit, von gedanklicher oder gar emotionaler Entwicklung keine Spur.

Im Finalsatz kommt die Beethoven eher fremde Orgel mit ins Spiel und der steinern dreinblickende Cameron Carpenter nudelt maschinell – oder soll das Ironie sein? – ein Solo herunter, das verdächtig nach uninspiriertem Händel klingt. Dann gibt es noch den schnell versiegenden Versuch einer kontrapunktischen Entwicklung und ein paar romantische Anklänge.

Je länger es dauert, desto mehr hat man den Eindruck, als kreisten hier viele, viele Töne ohne jede spürbare Absicht um eine erschreckend leere Mitte. Großer Applaus, dann eine kurze Diskussionsrunde, in der Dirk Kaftan, mühsam gebremst, das wahrste Wort des Abends spricht: „Das ist kein Beethoven!“