Deutschland gegen Italien in Dortmund: Als Fabio Grosso den Traum vom Titel beendet hat

Die Antwort fällt kurz und knapp aus. Arne Friedrich schreibt, er habe kein Interesse, über das Spiel zu reden.

Das Spiel, das ist das Halbfinale der Fußball-Weltmeisterschaft 2006. Deutschland gegen Italien im Dortmunder Westfalenstadion. Arne Friedrich, Rechtsverteidiger von Hertha BSC, hat damals die vollen 120 Minuten auf dem Rasen gestanden. Bis zum bitteren Ende.

Vielleicht hat er deshalb kein Interesse, noch einmal in Erinnerungen zu schwelgen.

Wir hatten alle einen Traum, und dieser Traum ist uns jetzt genommen.

Bundestrainer Jürgen Klinsmann nach dem Halbfinal-Aus bei der WM 2006

An diesem Sonntag, fast zwei Jahrzehnte später, treffen Deutsche und Italiener erneut in Dortmund aufeinander. Und erneut ist es ein Alles-oder-nichts-Spiel. Es geht um den Einzug ins Final-Four-Turnier der Nations League. Das Hinspiel in Mailand hat die Nationalmannschaft am Donnerstag 2:1 gewonnen, „und jetzt wollen wir auch das zweite gewinnen“, sagt Bundestrainer Julian Nagelsmann.

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Die Nations League genießt bei Nagelsmann hohe Wertschätzung, die Italiener sind sowieso immer ein ernstzunehmender Gegner, und trotzdem ist die Begegnung an diesem Sonntag (20.45 Uhr, live bei RTL) in ihrer Bedeutung natürlich nicht zu vergleichen mit dem Halbfinale einer Weltmeisterschaft. Schon gar nicht mit dem Halbfinale im heißen Sommer 2006.

29,66 Millionen Menschen sitzen am 4. Juli 2006, einem Dienstag, zu Hause vor dem Fernseher, um das Spiel zu sehen. Der Marktanteil liegt bei 84,1 Prozent. Es sind rekordverdächtige Werte. Und auch in der Chronik des deutschen Fußballs nimmt dieses Spiel einen besonderen Platz ein. Trotz des unglücklichen Ausgangs. Oder gerade deswegen.

Für große Erzählungen sind große Niederlagen genauso wichtig wie grandiose Siege. Und dieses 0:2 gegen die Italiener, den späteren Weltmeister, ist eine große Niederlage.

Die 119. Minute. Fabio Grosso (rechts) zirkelt den Ball ins deutsche Tor.

© imago/Ulmer/imago sportfotodienst

Es ist 23.26 Uhr, als Arne Friedrich den Ball nach einer Ecke von Alessandro del Piero aus dem deutschen Strafraum köpft. Der Ball landet bei Andrea Pirlo, der beinahe unfehlbaren Passmaschine der Italiener.

Die Deutschen wittern die Gefahr. Zu dritt stürzen sie auf Pirlo, der sich in einer perfekten Schussposition befindet. Aber Pirlo schießt nicht; Pirlo – man hätte es ahnen können – passt. Er passt auf Fabio Grosso, Italiens Linksverteidiger, der unfassbar allein im Strafraum steht und den Ball mit links zum 1:0 in die lange Ecke schlenzt.

Das 2:0 ist nur eine Randnotiz

Es ist die 119. Minute des Halbfinals, und während die Deutschen sich innerlich schon auf das Elfmeterschießen vorbereiten, entscheiden die Italiener mal eben das Spiel. Buchstäblich aus dem Fußgelenk. Mit der letzten Aktion vor dem Abpfiff wird del Piero später sogar noch auf 2:0 erhöhen. Aber das ist nur eine Randnotiz. Fabio Grosso wird für immer der Mann bleiben, der – im übertragenen Sinne – Winnetous Schwester erschossen hat.

„Wir hatten alle einen Traum, und dieser Traum ist uns jetzt genommen“, sagt Jürgen Klinsmann, der seit knapp zwei Jahren Bundestrainer ist und bereits am ersten Tag im Amt den WM-Titel als Ziel ausgerufen hat. Klinsmann hat das Land regelrecht zum Optimismus getrieben – und sich am Ende selbst zu sehr treiben lassen.

Als könnte er es selbst nicht glauben. Fabio Grosso bejubelt sein Tor zum 1:0 in der vorletzten Minute der Verlängerung.

© Imago Images

In der Verlängerung hat er sich von Marcello Lippi, dem Fuchs auf der italienischen Trainerbank, zu einem offenen Schlagabtausch verführen lassen. Aber den können Klinsmann und die Deutschen nicht gewinnen. „Am Ende geht es nur um Qualität“, sagt Lippi, „und die war heute eher auf unserer Seite.“

Wer sich das Spiel noch einmal in voller Länge anschaut, der erkennt, wie angestrengt die Deutschen zu Werke gehen, wie sehr sie sich aber auch mühen müssen, um mit den ausgebufften Italienern mithalten zu können.

Nur vier Monate und drei Tage sind vergangen, seitdem beide Mannschaften in Florenz zuletzt aufeinandergetroffen sind – und die Deutschen ein Debakel erlebten. 1:4 hieß es am Ende, und als Formel-1-Fahrer Michael Schumacher seine Landsleute nach dem Schlusspfiff in ihrer Kabine besuchte, fragte er: „Spielt ihr beim nächsten Mal auch wieder mit der A-Mannschaft?“

Die Nationalmannschaft am Nullpunkt

Der Nation aber ist nicht zu Scherzen zumute. Das Land ist nach der Niederlage in Florenz in Aufruhr, weil nichts zu funktionieren scheint. Die Viererkette ist so orientierungslos über den Rasen gestolpert, dass Klinsmanns Assistent Joachim Löw während der WM-Vorbereitung noch einmal bei null anfangen musste. Jede Schweizer B-Jugend, so klagte er, beherrsche die Viererkette besser als die deutsche A-Nationalmannschaft.

In Dortmund bekommen die Deutschen die Viererkette dann tatsächlich unfallfrei hin. Die Abstände stimmen, das Verschieben funktioniert. In der zweiten Halbzeit der regulären Spielzeit sind die Gastgeber sogar die bessere Mannschaft.

„Ihr seid nur ein Pizzalieferant“, singen die deutschen Fans. Das soll selbstsicher klingen, ist aber vor allem abschätzig gemeint. So hat es auch Nello di Martino erlebt, der seit 1971 in Berlin lebt, für Hertha BSC arbeitet und während der WM in Deutschland als Teammanager der Italiener tätig ist.

„Auf dem Weg ins Stadion standen die Leute an der Straße und haben uns den Stinkefinger gezeigt oder mit dem Zeigefinger über den Hals gestrichen“, hat Nello di Martino fünf Jahre nach der WM in einem Interview mit dem Tagesspiegel erzählt. „Die Boulevardpresse hat Leute, die seit 40 Jahren hier arbeiten, als Spaghettifresser und Pizzabäcker verhöhnt.“ Und das alles, weil die Italiener angeblich hinter der nachträglichen Sperre von Torsten Frings für das Halbfinale gestanden haben – was di Martino bestreitet.

Wir hatten keine Angst vor diesem Stadion und auch nicht vor diesem Publikum. Wir haben vor niemandem Angst.

Italiens Offensivspieler Francesco Totti nach dem Sieg gegen die Deutschen

Die Deutschen müssen im Halbfinale zwar auf Frings verzichten, dafür setzen sie auf die Macht des Westfalenstadions, in dem sie noch nie ein Länderspiel verloren haben. Doch der Zauber der Kulisse wirkt nur 118 Minuten. „Wir hatten keine Angst vor diesem Stadion und auch nicht vor diesem Publikum“, sagt Italiens Offensivspieler Francesco Totti. „Wir haben vor niemandem Angst.“

Die Deutschen haben den Italienern immerhin einen furchtlosen Kampf geliefert und bei tropischen Temperaturen den Elementen getrotzt. Beim Anpfiff um neun wurden immer noch 30 Grad gemessen, nach Mitternacht, in der Mixed Zone des Westfalenstadions, sind die Temperaturen gefühlt fast doppelt so hoch.

Als Lukas Podolski nach dem Duschen in die Mixed Zone kommt, läuft er gegen eine Wand aus Dunst und Männerschweiß. „Gibt’s hier keine Fenster, oder was?“, schimpft er. „Mann, Mann, Mann. Wie im Puff hier!“ Dann beantwortet er lustlos drei Fragen und verschwindet in die Nacht.

Dort, wo das Sommermärchen drei Wochen zuvor mit dem späten Tor von Oliver Neuville gegen Polen begonnen hat, dort scheint es nun für die Deutschen auch zu Ende gegangen zu sein. Aber das ist gar nicht so. Als die Nationalmannschaft drei Tage später zum Spiel um Platz drei nach Stuttgart reist, wird sie von den Menschen noch einmal euphorisch gefeiert.

Und so haben die deutschen Fußballer im Sommer 2006 gezeigt, dass man beides sein kann: große Verlierer und große Sieger.