Das Monumentalbild des Michael Müller: Knapp 400 Quadratmeter purer Malerei

„Fallhöhe unbekannt“ lautet der Untertitel der Gouache „Sturz“, die Michael Müller bereits als 15-Jähriger fertigte. In dem abstrakten Farbwirbel bilden drei stürzende Figuren das Zentrum: zwei von ihnen wie der Himmelsstürmer Ikarus mit Flügeln ausgestattet, die dritte dank Schwimmring vor dem tödlichen Untergang der Anmaßung gerettet. Das frühe Blatt des heute 52-jährigen Malers könnte zum Prolog seiner Ausstellung „Der geschenkte Tag. Kastor & Polydeukes“ im Frankfurter Städel Museum gehören.

Darin tauchen bereits die drei entscheiden Aspekte dieser gigantischen Soloshow eines eher noch unbekannten Künstlers auf: die opulente Koloristik, die der deutsch-britisch-indische Künstler mit nachtwandlerischer Sicherheit beherrscht, mythologische und philosophische Themen, mit denen er sich seit seiner Jugend beschäftigt und das Risiko des Größenwahns, das der umtriebige und eloquente Konzeptkünstler, Kurator und Kommunikator bewusst eingeht.

24 abstrakte Bildtafeln von je 6 mal 2,70 Metern füllen Stoß an Stoß gehängt den zentralen Ausstellungsraum im Metzler-Foyer. Passgenau für diese Raumsituation geschaffen, bilden sie ein überwältigendes Panorama von knapp 400 Quadratmetern purer Malerei, das die Betrachter*innen in einen wahren Farbrausch versetzt.

Der deutsch-britische Maler Michael Müller.
Der deutsch-britische Maler Michael Müller.
© Städel Museum Frankfurt/Main, VG Bildkunst Bonn 2022

Ein tiefes Weinrot ist der dominierende Farbklang und die Lieblingsfarbe von Michael Müller, die in einem dynamischen Verlauf von Dunkel zu Hell alle Nuancen von Burgunder über Aubergine bis Schwarz durchmisst mit einer strahlenden Passage in blassem Rosa und leuchtenden Farbakzenten in Türkis und Orange auf der immer wieder freiliegenden oder bedruckten Leinwand.

Wie in einem Schlachtengemälde des abstrakten Expressionismus vollzieht sich eine energiegeladene Entwicklung von Verdichtungen und Versprengungen, bei der Zufall und Kalkül genau austariert sind. In dieser Mischung aus Spontaneität und Präzision zeigt sich Müller einer fernöstlichen Form der Abstraktion verpflichtet, mit der er als junger Mann auf der Suche nach seinen indischen Wurzeln bei ausgedehnten Aufenthalten im Hoch-Himalaya in Berührung kam.

Dafür hatte er sein Studium an der Düsseldorfer Kunstakademie abgebrochen, um fortan zwischen buddhistischer Enthaltung und künstlerischer Entfaltung mit vielfältigsten Medien und Gattungen zu experimentieren. Erst vor zwei Jahren hat er wieder zur Malerei gefunden; prompt folgte die Einladung ins Städel.

Ausstellungsansicht im Frankfurter Städel.
Ausstellungsansicht im Frankfurter Städel.
© Städel Frankfurt/Main, VG Bildkunst Bonn 2022

Jedes der 24 Bilder steht für eine Stunde des Tages, an der es auch konsequent in einem ungeheuerlichen Kraftakt während eines knappen Dreivierteljahrs entstanden ist. Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang wiederholt sich Tag für Tag der ewig gleiche Kreislauf der Erde, der nie derselbe ist. Jede Stunde geht in die nächste über im fließenden Kontinuum der Zeit. Mit Hilfe von gedruckten Projektionen und Übermalungen macht der Künstler von Bild zu Bild das Ineinanderfließen der Zeit sichtbar, in sanften Übergängen und jähen Abbrüchen, spiegelbildlichen Wiederholungen und räumlichen Öffnungen.

Auf der Suche nach einer erzählerischen Struktur ohne Motiv, fand der Künstler in dem Zwillingspaar Castor und Polydeukes die ideale Personifikation der Zweiseitigkeit. Sie geben dem monumentalen Zyklus das rahmende Narrativ von den Zwillingssöhnen der Leda, die in einer Nacht von zwei Vätern gezeugt wurden, dem rechtmäßigen Ehemann und dem Göttervater Zeus.

Als die unzertrennlichen Brüder durch den gewaltsamen Tod des sterblichen Kastors getrennt wurden, bat Polydeukes seinen Vater Zeus, ihm die Unsterblichkeit zu nehmen, um seinem Bruder in die Unterwelt zu folgen. Gerührt von dieser Liebe gewährte Zeus den Zwillingen, fortan je einen Tag im Hades und im Olymp zu verbringen.

Die personifizierte Doppelstruktur bildet das Leitmotiv, das den zentralen 24-Stunden-Zyklus in einen Prolog und Epilog einbettet. Den Prolog eröffnet die Bronzeskulptur der „Dioskuren“ (2022) in Gestalt eines abstrahierten Pferdekopfes, dessen abgewandte Hauptansicht nur indirekt im dahinter angebrachten Spiegel zu sehen ist. Rechts und links werden die Besucher*innen von zwei altmeisterlichen Zeichnungen der ausgebreiteten Arme des Künstlers in Empfang genommen, die als Selbstporträt gedeutet werden können.

Für das mythologische Motiv des Bruderpaares und des Spiegels greift Müller außerdem auf Werke der hauseigenen Sammlung zurück. Jacopo Pontormos Kreidezeichnung „Zwei sitzende Maänner, in einen Handspiegel blickend, und ein sitzender Knabe“ (1520) verankern den selbstbewussten Auftritt des zeitgenössischen Künstlers in der altehrwürdigen Tradition des Städel Museums.

Traditionsbewusstsein oder Anmaßung? Um die früh erkannte Gefahr des Absturzes zu bannen, bringt Müller noch zwei Kupferstiche „Ikarus“ und „Phaeton“ aus der Folge „Vier Stürzende“ von Hendrick Goltzius von 1588 in Stellung, die auf Grund ihrer himmelstürmenden Hybris im Hades landeten.

Buchstäblich in die „Unterwelt“ führt der abschließende Weg vom zentralen Foyer hinab in die Gartenhallen, wo drei Diptychen aus der Serie „Hades“ (2022) den Epilog bilden. Mit deutlichen Reminiszenzen an den monumentalen Zyklus erkunden sie in ihrer Spiegelbildlichkeit das Wesen des Bildes zwischen Idee und Abbild und damit die narrativen Möglichkeiten der abstrakten Malerei. Sie liefern die Essenz des Zyklus und die Erfahrung: Zum Wesen des Bildes gehört sein Rand.

Während Castor und Polydeukes auch im Totenreich vereint sind, ist Michael Müller im Olymp des Städels angekommen. Sein Zyklus „Der geschenkte Tag“ feiert beides: die Licht- und die Schattenseite des Lebens und den Triumph der Liebe über den Tod in einer Grenzerfahrung der Malerei.

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