Trauma und Tod in der Bonner Republik
Bonn, 1. Juli 1977. Karl Martin ist Assistent am Rechtsmedizinischen Institut, wo er Leichen für die Gutachten fotografiert. Er trägt eine Brille wie Werner Höfer im „Internationalen Frühschoppen“ und lebt mit Ehefrau und Sohn in einer Siedlung am Stadtrand. Sohnemann Peter ist langhaarig, gerade volljährig und aufmüpfig, Ehefrau Margot still und geduldig.
Schon auf den ersten Seiten ihres Comics „Das Gutachten“ (Carlsen, 208 S., 25 €) illustriert Jennifer Daniel in malerischen Panels ohne viel Text das Thema, das unter der Oberfläche der Handlung dunkelgrün-grau wogt und den Protagonisten immer wieder hilflos in einen Strudel zieht: Als junger Mann war Martin im Zweiten Weltkrieg an der Westfront, die traumatischen Bilder vom Töten und Sterben verfolgen ihn bis in seine blutrot-schummrige Dunkelkammer im Institut und in seine Albträume, aus denen er schreiend erwacht.
Über dieses Trauma wird nicht gesprochen, und Martin versucht es im Zaum zu halten: Zur Morgenroutine im grün gekachelten Badezimmer gehört für ihn daher neben Rasur und „Irisch Moos“-Aftershave auch der Schluck aus dem Flachmann in der Sakkotasche – vor dem Frühstück auf der Eckbank mit Boulevardblatt und Zigarette.
Den Kontrast zu Herrn Martins Geschichte bildet ein zweiter Erzählstrang um die junge RAF-Sympathisantin Miriam Becker, Studentin und alleinerziehende Mutter eines kleinen Jungen. Auch farblich ist ihre Welt gegen die in gedeckten Farben gehaltene des Herrn Martin abgesetzt: Hier gibt es gelbe Möbel und Pullis, rote Autos und Fahrräder. Das zornige Kind wird mit Maurice Sendaks „Wo die wilden Kerle wohnen“ besänftigt, bevor Miriam es im Kinderladen abliefert.
Miriam plant mit Gleichgesinnten eine Protestaktion während des Kanzlersommerfestes, zu dem Helmut und Loki Schmidt ins Bonner Theater am Rhein geladen haben. Miriam soll in der Nähe auf die Kollegen warten und den Fluchtwagen fahren. Doch der Plan läuft schief, Miriam wartet lange vergeblich, und fährt schließlich nachts über die Landstraße zurück Richtung nach Hause. Ein Mercedesfahrer überholt sie und drängt sie von der Straße. Sie stirbt bei dem Unfall, der Fahrer fährt unerkannt davon.
Vertuschung, Machtmissbrauch und alte Seilschaften
Herr Martin, der die junge Frau am nächsten Tag auf dem Labortisch ablichten muss, ist auch persönlich in in das Unglück verwickelt. Von Schuldgefühlen gequält, beginnt er über die Umstände des Unfalls nachzuforschen. Er stößt in ein Geflecht aus Vertuschung, Machtmissbrauch und alten Seilschaften, dem er am Ende eine mutige und konsequente Entscheidung entgegensetzt.
Die in Bonn aufgewachsene Jennifer Daniel macht in „Das Gutachten“ in Bildern und Dekor die verklemmte und verdrängende, spießige Atmosphäre der Bundesrepublik in den siebziger Jahren sowie die Bewegung dagegen spürbar.
Ihre schablonenartigen Zeichnungen in Wasserfarbenoptik erinnern an Wimmelbilder, wenn auf einer ganzen Seite der Arbeitsweg von Herrn Martin aus dem Süden Bonns über die „Diplomatenrennbahn“ durch das Koblenzer Tor in die Innenstadt überblickt wird: Langer Eugen, Rhein, Hofgarten, Uni-Hauptgebäude im kurfürstlichen Schloss und Altes Rathaus liegen da ästhetisch arrangiert.
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Jennifer Daniel arbeitet als Illustratorin und Grafikerin in Düsseldorf und hat merklich viel Gespür für die Wirkung von Farben und Bildern und sequentielles Erzählen. Ihr Comic-Debüt hatte sie 2012 mit „Earth Unplugged“ (Jaja Verlag).
Für die noch unfertige Version von „Das Gutachten“ wurde sie 2021 als Finalistin des Comicbuchpreises der Leibinger Stiftung ausgezeichnet, dessen Jury die Autorin dieses Artikels angehört – und die sich freut diesen spannenden, beklemmenden und grafisch wunderschönen Politkrimi aus der Bonner Republik jetzt erschienen zu sehen.