Kinder sollen frei sein
Auf dieses Jubiläum hätten nur wenige gewettet: Die freie Schule Summerhill feiert dieses Jahr ihren hundertsten Geburtstag. Viele Male war das legendäre Internat an der Ostküste von England von Schließung bedroht, sei es durch knappe Mittel oder strikte, britische Aufsichtsbehörden. Doch Summerhill hat überlebt. Von der Idee dieser Schule, die kein Kind zum Unterricht zwingt, und alle Kinder fast alles mitentscheiden lässt, schwärmte man weltweit, besonders in Japan und Deutschland.
Mehr als eine Million Auflage erreicht allein der 1969 erschienene Rowohlt-Band zu Summerhill, verfasst von Alexander Sutherland Neill (1883 – 1973), der die Schule gründete. Übrigens tat er das nicht in England, sondern in der Weimarer Republik, als Teil der internationalen „Neuen Schule“ in Dresden Hellerau.
Der Pädagoge aus Schottland nutzte schlicht den damals günstigen Umtauschkurs für das britische Pfund, um sein visionäres Experiment zu starten. Neills lebhaft humorvoller Bericht über diese Phase, „A Dominie Abroad“, erschien 1923 in London und wurde erstaunlicherweise noch nie ins Deutsche übersetzt.
Verdrossen von der Rigidität deutscher Reformpädagogik – kein Tabak, kein Tanz, kein Kino! – verpflanzte Neill sein Projekt nach England, wo „die älteste Kinder-Demokratie der Welt“ sich dieses Jahr auf ihrer Website feiert (www.100yearsofsummerhill.co.uk) und für August 2022 zum „Festival der Kindheit“ aufruft.
Es gibt nur Problemeltern
Neills Credo lautete: „Es gibt nie ein Problemkind, es gibt nur Problemeltern.“ Wo Kinder sich frei entwickeln dürfen, ohne Druck, Zwang und Gewalt, da werden sie schöpferisch, sozial und wollen lernen. Manchmal kann es ein Jahr oder länger dauern, bis sich ein neues Kind in Summerhill entschließt, nicht mehr nur zu spielen, sondern den Unterricht zu besuchen, schreibt Matthew Appleton in seinen Erinnerungen an die neun Jahre, die er 1988 bis 1997 in Summerhill war, als Hauserwachsener zuständig für Dinge wie Tagesstruktur und Wäsche, Geschichtenerzählen und Trösten. Sein dichter Bericht wurde jetzt mit neuem Vorwort neu aufgelegt.
[Matthew Appleton: Kindern ihre Kindheit zurückgeben: Das Beispiel Summerhill. Aus dem Englischen von Hilla Müller-Deku. Psychosozial Verlag, Gießen 2021. 201 S., 22,90 €.]
Hier wird konkret, worin die Chancen und Grenzen des Modells liegen. Zunächst: Von Anarchie kann keine Rede sein. Vermutlich habe Summerhill mehr Regeln als die meisten Schulen, so Appleton. Einige Gesetze sind dauerhaft, etwa das Verbot von Drogen und Alkohol. Auf den Meetings, bei denen jede Stimme gleich zählt, egal wie alt jemand ist, werden weitere Regeln je neu ausgehandelt.
Etwa solche: In den Gebäuden darf nicht mit Wasser und Feuer gespielt werden, Schulmöbel dürfen nicht in den Wald mitgenommen werden, ins Dorf geht man nur zu zweit. Sanktionen lauten: Unkraut jäten, Küchendienst, Ausgehverbot, Taschengeldkürzung. Einspruch wird diskutiert, Einverständnis stets angestrebt. Fluchen ist erlaubt, Streiten auch.
Aufrichtigkeit und Vertrauen entwickeln
Es geht darum, dass Kinder Aufrichtigkeit entwickeln, Vertrauen, Selbstwert, Lebensfreude, Angstfreiheit, Rücksicht, Glück. Wenn sie nicht lernen, bauen sie Baumhäuser, basteln an Fahrrädern, lesen, tischlern, töpfern, singen, musizieren, malen, diskutieren.
Sie sähen selten fern, sagt der Autor, und trieben sich wenig in sozialen Netzwerken herum. Ungeeignet sei Summerhill für seelisch extrem geschädigte Kinder und solche, deren Eltern das Schulkonzept sabotieren. Alle anderen, so Appletons Erfahrung, gedeihen.
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Auch wenn das Modell Summerhill mit den winzigen Lerngruppen und der riesigen Freiheit sich gewiss nicht auf jede Schule übertragen lässt, gibt die Haltung von Summerhill gerade in der neoliberalen Ära wichtige Impulse. Appleton betont das Fehlen eines „Um-zu-Syndroms“. Denn „der Drang, alles was Kinder tun, zu einer ,Lernerfahrung’ zu machen ist einfach respektlos“, wettert er wider das Verzwecken von Neugier.
Darauf, auf lebendige Neugier, baut die Schule, ohne imposanten psychologischen Ballast, ohne viel Deuten und Lenken und rein säkular. Schülerinnen und Schüler lieben das, versichert Appleton. Das beweist, sagt er, die Geschwindigkeit, mit der die Kinder nach den Ferien aus den Autos ihrer Eltern stürzen, dem Spiel mit ihren Freundinnen und Freunden entgegen.