Die große Ekstase des Weltenerschaffers
Gar nicht so einfach, sich einen Begriff auf das singuläre Werk Werner Herzogs zu machen. Kapitulierend vor diesem irrwitzigen Synkretismus aus Wissenschaft, popkultureller Phänomenologie, Cargo-Kult und der schieren Abenteuerlust, es mit den Elementen der Natur aufzunehmen, einigt man sich am Ende aus Denkfaulheit doch wieder bloß auf ein Wort wie “Mythologie”. Unter diesem Allgemeinplatz lässt sich ja irgendwie alles subsumieren, dem mit der Ratio allein nicht beizukommen ist.
Den treffendsten und vielleicht sogar liebevollsten Vorschlag, um diese einzigartige Mixtur aus Weltanschauung und Weltenerschaffung auf den Punkt zu bringen, macht die Schauspielerin Nicole Kidman in Thomas von Steinaeckers Porträtfilm “Werner Herzog – Radical Dreamer”, der im Oktober in die Kinos kommt. Sie spricht von “Wernerwelt”. Das klingt nach Vergnügungspark, nach Kopfkino, nach einem Land voll unbegrenzter Möglichkeiten – und trifft damit das Temperament dieses so imaginären wie konkreten Ortes, an dem der menschlichen Vorstellungskraft scheinbar keine Grenzen gesetzt sind.
Kidmans Testimonial kann man aktuell auch in der Ausstellung “Werner Herzog” sehen, die die Kinemathek dem – und man tut den Fassbinders, Schlöndorffs und Wenders damit gewiss nicht Unrecht – größten deutschen Filmemacher der vergangenen fünfzig Jahre zum bevorstehenden 80. Geburtstag geschenkt hat. Die Schauspielerin ist mit ihren Erinnerungen nicht allein, auch Christian Bale und Robert Pattinson teilen als Talking Heads auf Videoscreens ihre Erlebnisse mit Herzog. Sie befinden sich gewissermaßen am anderen Ende des Spektrums von “Wernerwelt”, deren Tore noch bis Ende März geöffnet sein werden.
Diesseits vom Glamourfaktor Hollywoods findet sich ein alpines Urgestein, dem Herzog 1974, so sagt er heute selbst, seinen ersten großen Film widmete: der Schweizer Skispringer Walter Steiner, der fliegende Held aus “Die große Ekstase des Bildschnitzers Steiner”. In dem Titel steckt eigentlich schon der ganze Herzog, der sowohl im Dokumentarischen als auch im Fiktiven auf der Suche nach einer “ekstatischen Wahrheit” war. (Im Film hat auch die heute berühmte Persona “Werner Herzog” ihren ersten Auftritt.) Dieser Wahrheitsbegriff ist immer wieder missverstanden worden, zuletzt in der Kontroverse um die fingierte Inszenierung des Dokumentarfilms “Lovemobile”, dessen Regisseurin sich auf Herzog bezog.
Kryptisch-apokalyptische Interpretation der Welt
Werner Herzogs unstillbare Neugier ist auch im achtzigsten Lebensjahr nicht erloschen. Die Ausstellung versucht ansatzweise, eine Ordnung in dieses gewaltige Werk zu bringen. Es gelingt ihr immerhin, einige markante Akzente zu setzen. Räumlich betrachtet kann man am anderen Ende der Ausstellung, auf der zweiten Etage nämlich – thematisch passend dekoriert mit einer Urwaldtapete, die (auch das ein Herzog-Effekt) weniger exotisch, denn rustikal anmutet –, den archaischen, den raunenden Herzog entdecken, dessen schwerer deutscher Zungenschlag in Amerika zu seinem Markenzeichen wurde.
In der Mitte des Raumes steht ein Video-Triptychon, auf dem ein Loop von Naturaufnahmen aus seinen Dokumentar- und Spielfilmen läuft. Schon diese imposante Installation, ein einziges Nebelwabern, Feuerspeien, Eisklirren, Tiefseeblubbern und Dschungelrauschen, unterstreicht, wie müßig es im Werk Herzogs letztlich ist, zwischen den filmischen Gattungen zu unterscheiden. Die von allem Narrativen befreite Form führt aber auch noch mal nachdrücklich vor Augen, dass die gelegentlich komische Archaik seiner Voiceover-Kommentare leicht vergessen macht, was für ein grandioser Naturfilmer Herzog eigentlich ist.
Nur dass ihn das “National Geographic” mit seiner kryptisch-apokalyptischen Interpretation der Welt nie anheuern würde, wie er vor ein paar Jahren mal scherzhaft meinte. Dafür produzierte der Discovery Channel einen seiner größten Erfolge “Grizzly Man” über den Bärenversteher Timothy Treadwell, der von einem seiner Teddys gefressen wurde. Der Mensch und die unerbittliche Natur: Man versteht, warum das Schicksal Treadwells Herzog so nahe ging.
[Behalten Sie den Überblick: Jeden Morgen ab 6 Uhr berichten Chefredakteur Lorenz Maroldt und sein Team im Tagesspiegel-Newsletter Checkpoint über die aktuellsten Entwicklungen in Berlin. Jetzt kostenlos anmelden: checkpoint.tagesspiegel.de.]
Eine eigene Welt in der “Wernerwelt” verfasst die von Herzogs Szenenbildner Henning von Gierke gestaltete “Wunderkammer”. Hier stehen Schaukästen mit Objekten, deren Nutzen mit Requisiten nur unzureichend beschrieben ist. Thematisch sortiert nach Filmen – in Berlin sind die Kästen von “Fitzcarraldo” und “Nosferatu” zu sehen – sollten diese kuratierten Miniatursammlungen den Schauspielern eine atmosphärische Anmutung der Welten vermitteln, die Herzog vorschwebte.
Ein Kino als Sammelsurium
Doch an diesem musealen Ort, noch dazu konzentriert auf einen Raum, der sich genauso gut in einer ethnologischen Sammlung befinden könnte, beschwören Federschmuck, Keramiken, Knochenfunde, Muschelreste und tote Ratten augenblicklich auch wieder das Bild des Eroberers Herzog herauf, der mit Stirnband im Dschungel Anweisungen gibt. Fasziniert von den fremden Kulturen, aber eben auch ein Eindringling, der die indigenen Statisten mit Dampfschiffen triezte.
Mit “Die Kriechspur des Herrenmenschen” betitelte der “Spiegel” 1987 eine Reportage über die Dreharbeiten an “Cobra Verde”, ebenfalls in der Ausstellung dokumentiert. Je weiter sich Werner Herzog mental von seinen Landsleuten entfernte und in die Welt aufbrach, desto schwieriger wurde die Übersetzung dieses Werks in die Vorstellung eines geordneten Kinos.
Dieses Unbehagen an Herzogs Blick, auch an seinem kernigen Vitalismus in der frühen Werkphase reflektiert die Ausstellung gleich mit, ohne es kritisch zu bewerten. Henning von Gierkes “Wunderkammern” aber entpuppen sich als das perfekte Bild für Herzogs Arbeitsweise: ein Sammelsurium. Und auch hier gilt: Nicht alle Objekte sind echt, einige wurden vom genialen Szenenbildner liebevoll entworfen. Als hätte Herzog schon damals augenzwinkernd sein Spiel mit der Echtheit des vermeintlich Authentischen gespielt.
(Noch bis zum 27. März 2023 in der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen, Potsdamer Straße 2, täglich 10 bis 18 Uhr, dienstags geschlossen)
Das vielleicht vielsagendste Objekt der Ausstellung ist jedoch ein Readymade: eine Sammelfigur aus der Star-Wars-Serie “The Mandalorian”, in der Herzog ein Cameo als “der Auftraggeber” hat. Das Spielzeug erinnert noch einmal daran, dass er insbesondere in den USA mehr ist als ein großer Regisseur. Herzog ist inzwischen ein Popstar – mit Gastauftritten bei den “Simpsons”, in Talkshows und zahllosen Parodien im Netz. Wobei nicht unerwähnt bleiben soll, dass die beste Werner-Herzog-Parodie natürlich von ihm selbst stammt: in der Horror-Mockumentary “Incident at Loch Ness” aus dem Jahr 2004.
Die amerikanische Oscar-Preisträgerin Chloé Zhao, wie Herzog ein Naturfan (allerdings ohne dessen Pessimismus), beschreibt dieses Phänomen in der Ausstellung sehr schön. Er verstehe es wie kein anderer Regisseur, seinen Purismus mit einer Sensibilität für die Populärkultur zu verbinden. Weil Werner Herzog sich in den Menschen, die er filmt, wiederfindet, sei er selbst zu einer Figur geworden: berühmter letztlich sogar als seine Filme. Für die “Wernerwelt” ist das Kino im Grunde viel zu klein.